FABIAN HANDBUCH: HANDBUCH DER HISTORISCHEN BUCHBESTÄNDE IN DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH UND EUROPA SUB Logo
 
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Vorwort zum Gesamtwerk

Wir befinden uns in einer Spätphase des Buchzeitalters, in der die Bedeutung des gedruckten Textes auf neue Weise offenbar wird. Das Buch ist kein bloßer Textträger, der beliebig gegen andere ausgetauscht werden kann. Als konstituierendem Medium unserer auf Texte gegründeten Kultur kommt ihm über seine praktische Funktion hinaus ein symbolischer Wert zu. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung gegenüber der gedruckten Überlieferung. Nicht zufällig mehren sich in den letzten Jahrzehnten die Bemühungen, für die Geschichte des Buches und der Bibliotheken eine ebenso gegenwartsnahe wie zukunftweisende Perspektive zu gewinnen.

In vielen Ländern wird dem nationalen Schrifttum, dessen man sich als einer zentralen Komponente der kulturellen Tradition vergewissern möchte, neue Aufmerksamkeit zuteil. Als rückwärtige Ergänzung zur Verzeichnung der laufenden Buchproduktion sind allenthalben retrospektive Nationalbibliographien in Arbeit oder in der Planung. In vielen Bibliotheken werden die historischen Bestände unter Einsatz moderner technischer Hilfsmittel neu erschlossen und unter den Prämissen des Bestandsschutzes neu zugänglich gemacht.

Retrospektive Nationalbibliographien mit Bestandsnachweisen sind ebenso wie Kataloge bedeutender Bibliotheken umfassende Inventare der gedruckten Überlieferung. Sie ermöglichen den Zugriff auf einzelne Bücher und damit auf die Elemente, aus denen sich die gedruckte Überlieferung zusammensetzt. Sie sind unentbehrlich und können nicht obsolet werden. Um neuen und differenzierten Ansprüchen zu genügen, müssen sie indessen in größeren Zeitabständen modernisiert werden.

Gegenüber Katalog und Bibliographie repräsentiert das Handbuch der historischen Buchbestände eine neue Art der Inventarisierung. Ihre Grundsätze und Verfahrensweisen haben sich erst in den letzten Jahren herausgebildet. Die Inventarisierungsabsicht richtet sich nicht auf das Buch, sondern auf die Bibliothek, nicht auf den einzelnen Titel, sondern auf die Sammlung. Ihre Elementareinheit ist die Bestandsgruppe, wie sie sich in der Bibliothek vorfindet.

Als Inventar der gedruckten Überlieferung sieht das Handbuch seine Aufgabe darin, die Bestände von Bibliotheken auf eine vielfach nutzbare Weise zu beschreiben. Sein Ziel ist, vor dem Hintergrund der individuellen Bibliotheksgeschichte Strukturen von Beständen zu verdeutlichen und Bestandsprofile sichtbar zu machen. Das Augenmerk gilt jenen Komplexen, deren Ensemble den Charakter einer Bibliothek ausmacht, ihre Eigenart konstituiert und ihre besondere Leistungsfähigkeit begründet.

Das Handbuch ist kein Ersatz für Bibliotheks- oder Zentralkataloge. Es steht auch nicht in Konkurrenz zur retrospektiven Nationalbibliographie. Es ergänzt beide. Bibliographien mit Standortnachweisen, gleich welcher Art, transzendieren in der Regel die individuelle Bibliothek. Die Beschreibungen des Handbuches sind dagegen Beschreibungen von konkreten Bibliotheksbeständen. Kataloge, ob Bibliotheks- oder Zentralkataloge, lassen in der üblichen Form des Verfasserkatalogs Struktur und Eigenart eines Bestandes nicht erkennen. Eben diese bringen die systematischen Übersichten des Handbuches zur Anschauung.

Das Handbuch versteht sich als ein großflächig angelegtes Verzeichnis zu dem vom Beginn des Buchdrucks bis zum Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts erschienenen Schrifttum in deutschen Bibliotheken. Es bezieht mehr als eintausend allgemein zugängliche Bibliotheken ein
von den Staats- und Universitätsbibliotheken über die Regional- und Stadtbibliotheken bis zu Schul-, Kirchen- und Klosterbibliotheken, sofern sie über tsprechende Bestände verfügen. Dabei findet das gesamte Spektrum des Gedruckten Berücksichtigung, vom Buch bis zum Gelegenheitsdruck.

Das Handbuch der historischen Buchbestände ist gleicherweise ein historisch orientiertes Nachschlagewerk und eine kulturwissenschaftliche Dokumentation. Es soll eine Reihe von Funktionen erfüllen. Auf elementarem Niveau ist es nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs die erste ebenso summarische wie detaillierte Bestandsaufnahme der in deutschen Bibliotheken noch vorhandenen oder seither neu erworbenen historischen Bestände. Zahlenangaben erscheinen nicht um ihrer selbst willen in den Übersichten, sondern als Anhaltspunkte für Größe und Bedeutung von Beständen. In dieser Hinsicht ist das Handbuch nicht zuletzt als Orientierungshilfe für die Bibliotheksplanung gedacht. Katalogisierung und Konservierung von historischen Beständen werden sich künftig in großem Stile als notwendig erweisen.

Die zweite Funktion des Handbuches soll die eines Vademecums für die bibliothekarische und wissenschaftliche Arbeit mit historischen Beständen sein. Das deutsche Bibliothekswesen ist aus historischen Gründen regionalisiert und stärker dezentralisiert als das anderer europäischer Länder. Der nationale Bestand an historischem Schrifttum ist in hohem Maße ein Streubestand. Seine Benutzung ist schwierig, und sie wird in Zukunft umso schwieriger werden, je unumgänglicher konservatorische Rücksichten die Praxis der Literaturversorgung bestimmen. Das alte Buch wird nicht mehr zum Wissenschaftler kommen: er wird es am Ort seiner Aufbewahrung aufsuchen müssen. Für diese Situation eines eingeschränkten oder gänzlich eingestellten Leihverkehrs ist das Handbuch als Hilfsmittel des historisch arbeitenden Bibliotheksbenutzers gedacht. Neben den Bestandsbeschreibungen eröffnen die ausführlichen Abschnitte über Kataloge und Veröffentlichungen zu den Beständen vielfältige neue Zugänge. In der Kumulation seiner bibliographischen Abschnitte bietet das Handbuch einen Nachweis für aktuelle und historische Bibliothekskataloge, wie es ihn bislang nicht gab.

Seit einiger Zeit mehren sich die Forschungsvorhaben, die auf Bestandskomplexe in Bibliotheken rekurrieren. Sie suchen ihren Zugang nicht zuerst über den alphabetischen Verfasserkatalog. Für sie sind die Bibliotheken weniger Zulieferer von punktuell benötigter Literatur als Archive neuer Art: Knotenpunkte geistiger Netze, deren Verknüpfungen noch zu untersuchen sind. Die Zahl solcher Projekte wird zunehmen, nicht zuletzt dadurch, daß sich für die historisch orientierten Geisteswissenschaften infolge der jüngsten politischen Veränderungen neue Dimensionen aufgetan haben.

Deutschland hat ein nationales Schrifttum von großer Reichhaltigkeit hervorgebracht. Im Verlaufe seiner Geschichte hat es überdies in hohem Maße Kulturgut aus anderen europäischen Ländern aufgenommen. Entsprechend reich sind viele Bibliotheken an fremdsprachigem Schrifttum. Das Handbuch setzt sich daher zum Ziel, nicht nur im deutschen Sprachraum erschienenes Schrifttum zu erfassen, wie dies die retrospektive Nationalbibliographie definitionsgemäß tut. Als Wegweiser für den Bibliothekar und den Wissenschaftler berücksichtigt es in gleicher Weise auch fremdsprachiges Schrifttum jeglicher Provenienz.

Schließlich ist das Handbuch als neuartiges Arbeitsinstrument für die Erforschung der Bibliotheken gedacht. In der Verbindung von Bestandsbeschreibung und Bestandsgeschichte stellt es die Bibliotheksbestände in historische und systematische Zusammenhänge, die sich in dieser Weise noch nicht dargeboten haben. In gedrängter Fassung, häufig auch detailliert, enthält das Handbuch mehr als eintausend individuelle Bibliotheksgeschichten. Damit kann es als Grundlage für Arbeiten zur Buch- und Bibliotheksgeschichte dienen.

In dem Maße, wie das Buch nicht nur als Kommunikationsmittel, sondern als Träger geistiger Prozesse Aufmerksamkeit findet und seine Geschichte zu einem eigenen Forschungsgebiet wird, wandelt sich auch die Konzeption der Bibliothek. Sie stellt sich nicht mehr als bloßes Literaturreservoir dar, sondern als kulturelles Artefakt, in dem sich eine spezifische Gestaltungsabsicht manifestiert. Die Kulturfunktion und die Wissenschaftsfunktion der Bibliothek treten hervor.

Das Handbuch ermöglicht eine vergleichende Typologie der Bibliotheken ebenso wie eine Betrachtung funktionsgeschichtlicher Zusammenhänge. Die Verwaltung der gedruckten Überlieferung, die weitgehend eine Angelegenheit der Bibliotheken ist, erweist sich zunehmend als bedeutsamer Faktor der Geistes- und Kulturgeschichte. Und die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Bibliothek und Erkenntnisinteresse wie auch zwischen Bibliothek und Erkenntnismöglichkeit stellen sich als Probleme der Wisssenschaftsgeschichte dar.

Die Rolle, die das Handbuch der historischen Buchbestände in der künftigen Bibliotheks- und Forschungspraxis spielen wird, läßt sich nicht im einzelnen voraussehen. Die Herausgeber hoffen, daß es sich in Anlage und Informationsgehalt als ein brauchbares Arbeitsinstrument erweisen wird. Wie jedes Nachschlagewerk ist es
so wurde einmal treffend formuliert - eine Maschine zur Beantwortung von Fragen. Der Benutzer sollte indessen nicht erwarten, daß es als Wundermaschine funktioniert und für jedes Arbeitsvorhaben den Aufbewahrungsort der gewünschten Literatur angibt. Sein letztes Ziel hätte das Handbuch erreicht, wenn es nicht nur bereits formulierte Fragen beantwortete, sondern auch neue aufwerfen würde.

Das Projekt des Handbuches wurde erstmals in einer Studie skizziert, die unter dem Titel Buch, Bibliothek und geisteswissenschaftliche Forschung in der Schriftenreihe der Volkswagen-Stiftung erschienen ist (Göttingen 1983). In antizipatorischer Wissenschaftsfürsorge hat sich die Volkswagen-Stiftung das Projekt zu eigen gemacht und im Rahmen ihrer Schwerpunktförderung " Beispiele kulturwissenschaftlicher Dokumentation" großzügig unterstützt.

Nach der ursprünglichen Planung von 1984 war das Handbuch auf die damalige Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin beschränkt. Die Verhandlungen über ein komplementäres Werk für die ehemalige DDR, das ebenfalls von der Volkswagen-Stiftung unterstützt werden sollte, waren im Sommer 1989 abgeschlossen. Durch die Wiedervereinigung kann nunmehr ein Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland erscheinen. Für seine Realisierung hat die Stiftung dankenswerterweise eine neue Grundlage geschaffen.

Die Anlage des Handbuches entspricht der ausgeprägten Regionalstruktur des deutschen Bibliothekswesens. In der Anordnung der Regionalteile spiegelt sich die Tatsache, daß im ehemals geteilten Deutschland zwei Handbücher im Entstehen waren. Da die Benutzbarkeit nicht beeinträchtigt wird, sehen die Herausgeber keine Veranlassung, diese Anordnung zu verändern, mit Ausnahme eines eigenen Bandes für Berlin.

Nachdem sich die Bibliothekswelt damit befreundet hatte, fand die Idee des Handbuches eine überaus entgegenkommende Aufnahme. Über weite Teile ist es zu einer Selbstdarstellung der Bibliotheken geworden, die sich in ihrer Gesamtheit wieder nachdrücklich zu der Aufgabe bekennen, die gedruckte Überlieferung zu bewahren, zu erhalten und zu erschließen. Die Herausgeber danken allen, die am Handbuch mitgearbeitet haben. Sie danken den zuständigen Ministerien und den staatlichen, kommunalen, kirchlichen und privaten Unterhaltsträgern, die die Mitwirkung der einzelnen Bibliotheken ermöglicht und überdies vielfach aktiv unterstützt haben.

Auch außerhalb Deutschlands ist die Idee des Handbuches auf Interesse gestoßen. In Kooperation mit dem deutschen Handbuch entsteht ein nach den gleichen Grundsätzen gearbeitetes Handbuch der historischen Buchbestände in Österreich. Es wird von der Österreichischen Nationalbibliothek betreut und herausgegeben. Ein Handbuch zu den deutschen historischen Buchbeständen in europäischen Bibliotheken des nicht-deutschsprachigen Bereichs wird sich anschließen. Die Zusammenstellung dieser beiden Werke wird ebenfalls von der Volkswagen-Stiftung gefördert. Die drei Handbücher sind als Einheit konzipiert, und sie werden durch ein Generalregister erschlossen.

Für die Betreuung des Handbuches wurde der Hauptherausgeber von seinen Lehrverpflichtungen als Hochschullehrer freigestellt. Er dankt dafür dem Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen. Überdies dankt er der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster für vielfältige Unterstützung.

Münster, September 1991

Bernhard Fabian




Quelle: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Digitalisiert von Günter Kükenshöner.
Hrsg. von Bernhard Fabian. Hildesheim: Olms Neue Medien 2003.