FABIAN HANDBUCH: HANDBUCH DER HISTORISCHEN BUCHBESTÄNDE IN DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH UND EUROPA SUB Logo
 
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Rossijskaja nacional'naja biblioteka

Russische Nationalbibliothek


Adresse. Ulica Sadovaja 18, 191069 Sankt-Peterburg
Telefon. (0812) 310 28 56, 310 71 37
Telefax. (0812) 310 61 48
e-mail. [rnb@glas.apk.org.]

Otdel notnych izdanij i zvukozapisej
[Sonderabteilung Musikdrucke und Tonträger]:
Adresse. Nabereznaja fontanki 36, 192104 Sankt-Peterburg
Telefon. (0812) 272 47 41; 272 61 28
Telefax. (0812) 310 61 48


Zeitungsabteilung:
Adresse. Nabereznaja fontanki 36, 192104 Sankt-Peterburg
Telefon. (0812) 272 97 71
Telefax. (0812) 310 61 48
e-mail. [papers@rlr.ru]

Otdel literatury na jazykach stran Azii i Afriki
[Abteilung Literatur in den Sprachen der Länder Asiens und Afrikas]:
Adresse. Litejnyj prospekt 49, 191104 Sankt-Peterburg
Telefon. (0812) 272 57 76
Telefax. (0812) 310 61 48

Unterhaltsträger. Ministerstvo kul'tury Rossijskoj Federacii [Ministerium für Kultur der Russischen Föderation]
Funktionen. Russische Nationalbibliothek, wissenschaftliche Universalbibliothek.
Sammelgebiete. Sämtliche Wissensgebiete.

Benutzungsmöglichkeiten. Präsenzbibliothek. - Öffnungszeiten: wissenschaftliche, allgemeine Lesesäle und zentrale Leseräume täglich 9-21 Uhr; im Sommer: Montag und Mittwoch 13-21 Uhr, Dienstag, Donnerstag und Sonntag 9-17.30 Uhr. - Leihverkehr: nationaler und internat. Leihverkehr. - Sonderabteilung Musikdrucke und Tonträger: Präsenzbibliothek. - Öffnungszeiten: im Sommer Montag bis Mittwoch 13-21 Uhr, Donnerstag bis Samstag 9-17 Uhr; übrige Zeit Montag bis Samstag 12-21 Uhr. - Leihverkehr: nationaler und internationaler Leihverkehr. - Zeitungsabteilung: Präsenzbibliothek. - Öffnungszeiten: Montag bis Sonntag 9-21 Uhr. Im Juli und August Montag und Mittwoch 13-21 Uhr; Dienstag, Donnerstag bis Sonntag 9-17 Uhr. - Abteilung Literatur in den Sprachen der Länder Asiens und Afrikas: Präsenzbibliothek. - Öffnungszeiten: Montag bis Freitag 9-21 Uhr; Samstag und Sonntag 11-19 Uhr. - Leihverkehr: nationaler und internat. Leihverkehr.
Technische Einrichtungen für den Benutzer. Kopiergeräte, Mikrofiche- und Mikrofilm-Lesegeräte, Internetzugang.
Gedruckte Informationen. Gosudarstvennaja publicnaja biblioteka imeni M. E. Saltykova-Šcedrina [Die Staatliche Öffentliche Bibliothek M. E. Saltykov-Šcedrin: Merkblatt für den Benutzer]. Leningrad 1988. - Pravila pol'zovanija Publicnoj bibliotekoj im. M. E. Saltykova-Šcedrina [Benutzungsordnung der Öffentlichen Bibliothek M. E. Saltykov-Šcedrin]. Leningrad 1989. - Biblioteki Rossii [Die Bibliotheken Rußlands: Ein Führer]. Sankt-Peterburg 1996, S. 26-33.
Hinweise für anreisende Benutzer. Schriftliche oder telefonische Voranmeldung und Literaturbestellung empfehlenswert. - Metrostation Gostinyj Dvor oder Nevskij prospekt, Busverbindung (Linien 1, 3, 5, 7, 10, 22) bis Haltestelle Gostinyj Dvor, von dort 3 Minuten Fußweg. Straßenbahnverbindung (Linien 2, 5, 14, 54) bis Haltestelle Nevskij Prospekt, von dort 2 Minuten Fußweg. Parkmöglichkeiten in Bibliotheksnähe in den Straßen Malaja Sadovaja, Periinaja Linija und Gostinyj Dvor. - Abteilung Musikdrucke: Fußwegnähe vom Hauptgebäude der Nationalbibliothek über den Nevskij Prospekt in Richtung Anickov-Brücke (ca. 7 Minuten), links entlang des Fontankaflusses (ca. 4 Minuten). Kein eigener Parkplatz.

Inhalt

 Bestandsgeschichte ................................... [1.0]
 Die Entstehung der russischen Nationalbibliothek ..... [1.1]
 Die Bibliothek unter der Leitung von
 Aleksej Nikolaevic Olenin ............................ [1.9]
 Das goldene Zeitalter der Bibliothek ................. [1.19]
 Die Öffentliche Bibliothek nach 1917 ................. [1.34]
 Bestandsgeschichte der einzelnen Abteilungen ......... [1.43]
 Katalogsystem der Nationalbibliothek ................. [1.105]
 StPet2:
 Bestandsbeschreibung ................................. [2.0]
 Philologie ........................................... [2.2]
 Römische und griechische Klassiker ................... [2.10]
 Geschichte ........................................... [2.21]
 Rechtswissenschaften ................................. [2.41]
 Theologie ............................................ [2.53]
 Philosophie und Pädagogik ............................ [2.89]
 Fremdsprachige Schöne Literatur (Belles Lettres) ..... [2.107]
 StPet3:
 Abteilung IV ......................................... [2.142]
 Kunst und Technologie ................................ [2.154]
 Naturwissenschaften und Medizin ...................... [2.166]
 Ökonomie und Wirtschaft .............................. [2.190]
 Polygraphie .......................................... [2.196]
 Rossika .............................................. [2.209]
 StPet4:
 Rara-Abteilung ....................................... [2.237]
 Fremdsprachiger Zeitschriftenbestand ................. [2.282]
 StPet5:
 Zeitungen ............................................ [2.325]
 Druckgraphik ......................................... [2.337]
 Musikdrucke .......................................... [2.353]
 Bibliothekswissenschaft .............................. [2.373]
 Literatur in den Sprachen der Länder
 Asiens und Afrikas ................................... [2.378]
 Zentrale Bibliographische Auskunftsbibliothek ........ [2.421]
 StPet6:
 Kataloge ............................................. [3.0]
 Moderne allgemeine Kataloge .......................... [3.1]
 Moderne Spezialkataloge .............................. [3.2]
 Historische Kataloge ................................. [3.3]
 Darstellungen zur Geschichte der Bibliothek .......... [4.0]
 Veröffentlichungen zu den Beständen .................. [5.0]

1. BESTANDSGESCHICHTE

Die Enstehung der russischen Nationalbibliothek

1.1 Ende des 18. Jhs wurde in Rußland eine Nationalbibliothek als neuer Bibliothekstyp ins Leben gerufen. Als Vorbild für die Planung dienten vergleichbare staatliche Institutionen in westeuropäischen Ländern wie Großbritannien, Frankreich und Schweden. Jedoch verlief die Einrichtung einer solchen staatlichen Institution in Rußland anders als in Westeuropa. Für die Entwicklung des russischen Staates im 18. Jh waren - im Gegensatz zur Entwicklung vieler europäischer Länder - Reformen kennzeichnend, die von oben durchgesetzt wurden und nicht von breiten Gesellschaftskreisen getragen wurden. Demzufolge wurde auch die Idee einer Nationalbibliothek von oben bestimmt. Das Vorhaben wurde in Rußland zu einer Zeit ins Leben gerufen, als im Zuge der Reformen Peters I. mit St. Petersburg eine neue Hauptstadt tstand, in die die Erfahrungen der fortschrittlichen westeuropäischen Länder einfließen sollten. Die Gründung der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek in St. Petersburg, im Jahre 1795 durch die Reformatorin des russischen Kaiserreichs, Katharina II. (1729-1796), betrieben, kam zunächst nicht den Bedürfnissen einer breiten Öffentlichkeit tgegen. Darüber hinaus erwies es sich zu Beginn als schwierig, die schriftliche Überlieferung des Landes zu repräsentieren - ein kultureller Auftrag von Nationalbibliotheken, die in der Regel mit einem Grundstock von einheimischen Sammlungen begonnen haben.

1.2 Zwar existierte in St. Petersburg seit Beginn des 18. Jhs die Bibliothek der Akademie der Wissenschaften, bis zu diesem Zeitpunkt die größte wissenschaftliche Institution Rußlands, doch bedeutete die Idee einer Nationalbibliothek als großer wissenschaftlicher Einrichtung mit Universalcharakter eine neue Dimension. In diesem Zusammenhang beabsichtigte Katharina, mit Unterstützung der französischen Aufklärer, die viel zur wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklung Rußlands beigetragen hatten, die Bibliothek nicht nur für die Elite, sondern auch für ein gebildetes, bürgerliches Publikum zu öffnen. Diese Absicht spiegelte sich auch im Namen der Bibliothek wider, die ab 1811 bis zur Revolution 1917 Kaiserliche Öffentliche Bibliothek hieß. Katharinas Meinung nach sollte die Bibliothek zum Zwecke der Gemeinnützigkeit und Aufklärung geöffnet werden. Als Sammlungsauftrag dieser Bibliothek betrachtete sie den Erwerb aller russischen und ausländischen Bücher .... Im Jahre 1766 legte der Mäzen und Staatsmann Aleksandr Sergeevic Graf Stroganov (1733-1811) Katharina II. den Plan der Öffentlichen Russischen Bibliothek in St. Petersburg zur Prüfung vor. Der Initiator dieses Projekts war der Schriftsteller Boris M. Saltykov (1723-1808). Das Hauptziel des Unternehmens war die Verbreitung und Förderung der russischen Sprache. Die Idee einer Nationalbibliothek des Russischen Staates wurde jedoch erst drei Jahrzehnte später realisierbar.

1.3 In vielen europäischen Ländern bildeten große private Sammlungen, besonders die Privatbibliothek der Monarchen selbst, den Grundstock einer Nationalbibliothek. In Rußland traf man schließlich die Entscheidung, die neu zu schaffende Nationalbibliothek mit Sammlungen aufzubauen, die sich nicht nur außerhalb von St. Petersburg, sondern auch außerhalb Rußlands befanden: ins Blickfeld gerieten die Bestände der großen Bibliotheken Polens, insbesondere die der Zauski-Bibliothek, die von 1774 bis 1794 als Nationalbibliothek des polnischen Staates fungierte und den offiziellen Namen Biblioteka Rzeczpospolitej Za uskich trug. Sie war am 8. August 1747 als Öffentliche Bibliothek in Warschau eröffnet worden. Ihre Begründer waren die adligen Brüder Andrzej Stanisav (1695-1774) und Józef Andrzej Zauski (1702-1758), polnische Grafen, Staatsmänner, Gelehrte und Bibliophile, die eine große Rolle im kirchlichen und gesellschaftlichen Leben spielten. Ihre Privatbibliothek geht zurück auf den Zeitraum von 1716 bis 1718, als die Brüder ihre Studien im Ausland, insbesondere in Italien und Frankreich aufnahmen. Der Bucherwerb in großem Stil erfolgte später in anderen Ländern. So besuchte Józef Andrzej nach seiner Rückkehr aus Rom im Jahre 1732, wo er als Diplomat tätig gewesen war, in regelmäßigen Abständen ausländische Städte wie Amsterdam, Den Haag, Rotterdam, London, Kopenhagen und Uppsala, um seine Bibliothek zu ergänzen. Das Konzept der Zauski-Bibliothek als wissenschaftliche, öffentliche Einrichtung orientierte sich an verschiedenen Bibliotheken Europas, vor allem Italiens und Deutschlands. Vorbild war insbesondere die Königliche Bibliothek in Dresden.

1.4 Die Bestände der Zauski-Bibliothek wurden 1795 als sogenannte Kriegstrophäe aus Warschau abtransportiert. Die Entscheidung, die Zauski-Bibliothek zu konfiszieren, wurde vom Staatsrat getroffen, bevor die russischen Heere unter der Leitung General Aleksandr V. Suvorovs (1729-1800) die Stadt Warschau am 13. Dezember 1794 eroberten. Der von Katharina II. unterschriebene Erlaß, der General Suvorov die Auflösung der Zauski-Bibliothek in Warschau ermöglichte, folgte am 21. November desselben Jahres. Für den Transport der Bibliothek nach St. Petersburg beauftragte man den russischen Diplomaten und damaligen russischen Residenten in Polen, Baron Ivan F. Asch (1726-1807). Den Angaben polnischer Historiker zufolge wurden 394.150 Bde, ca. 11.000 Handschriften und 24.574 Stiche nach St. Petersburg abtransportiert. Der tatsächliche Umfang des Buchbestandes, der nach St. Petersburg gelangte, beläuft sich jedoch nur auf 262.640 Bde. Die große Differenz ist auf den Verlust von Drucken während des Transports zurückzuführen, der zu kurzfristig geplant war und nur eine unzureichende Organisation erkennen ließ. Im Laufe des Sommers und Herbstes 1795 gelangten die Bestände nach Riga und danach mit Schiffen nach St. Petersburg. Im 19. Jh betrachtete man die Bestandsgeschichte der Zauski-Bibliothek als eine Entwicklungsstufe der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek. Dies bestätigt die Tatsache, daß in der 1854 eingerichteten Rossika-Abteilung eine besondere Sammlung zur Geschichte der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek aufgestellt wurde. In dieser Sammlung waren Einbände von Werken zur Geschichte der Zauski-Bibliothek sowie die von der Zauski-Bibliothek selbst gedruckten Materialien violett gefärbt, während die Einbände weiterer Werke die Farben Grün, Braun und Rot aufwiesen. Die Farben entsprachen somit einer bestimmten Periode der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek.

1.5 Da die Zauski-Bibliothek eine der reichsten europäischen wissenschaftlichen Bibliotheken war, die das geistige Erbe vieler Völker Europas spiegelte, beeinflußte sie in hohem Maße die Zusammensetzung der Bestände der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek. Sie bestimmte auch die Bestandsergänzungen bis ins frühe 20. Jh. Die Zusammensetzung der Zauski-Bibliothek machte aber auch die Notwendigkeit deutlich, ein besonderes Augenmerk auf die Bestände inländischen Schrifttums zu richten, zumal sich in den Beständen der Warschauer Bibliothek, die in St. Petersburg eintrafen, nur acht Werke in russischer und kirchenslawischer Sprache fanden. Von Anfang an wurde die neu begründete Bibliothek von Katharina II. als allgemeinrussische Bibliothek, als Aufbewahrungsort einer vollständigen Sammlung russischer Bücher betrachtet. Diesen Forderungen Katharinas II. kam insbesondere der Schriftsteller, Übersetzer und Bibliothekar der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek, Michail I. Antonovskij (1759-1816), entgegen. Dieser beschrieb in zahlreichen Dokumenten die Pläne der Zarin zur Schaffung einer Nationalbibliothek. Da sich unter den in St. Petersburg eingetroffenen Werken nur sehr wenige russischsprachige Drucke befanden, entschied man, die Zauski-Bibliothek mit anderen kaiserlichen Bibliotheken und Gelehrtenbibliotheken zu vereinigen: etwa mit den Hofbibliotheken der Petersburger Eremitage und der kaiserlichen Landresidenz in Gatcina sowie mit den Privatbibliotheken von Voltaire (s. u. 1.74), Diderot und Baron Johann Albrecht Korff (1697-1766), Präsident der Petersburger Akademie der Wissenschaften. Dessen ca. 36.000 Bde umfassende Bibliothek war kurz vor seinem Tod von Katharina II. für ihren Sohn Paul aufgekauft worden. Ein Teil befindet sich heute in der Universitätsbibliothek Helsinki (s. Eintrag dort, Handbuch Europa Bd 7.2, 1.19 und 2.64-2.70).

1.6 Als offizieller Zeitpunkt für die Gründung der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek gilt der 27. Mai 1795. An diesem Tag stimmte Katharina II. dem Bauvorhaben der Bibliothek zu, das von dem Architekten Egor T. Sokolov (1750-1824) vorgestellt worden war. Das Gebäude erhielt im Zentrum St. Petersburgs seinen Platz, an der Kreuzung von Nevskij Prospekt und Ulica Sadovaja. So wurde die neue Bibliothek zum Symbol der kaiserlichen und der geistigen Macht des russischen Reichs. Die letzte Anordnung über die Finanzierung des Gebäudes erließ Katharina II. einige Tage vor ihrem Tod im November 1796. Anfangs wurden die aus Warschau gelieferten Werke auf der Galerie des Anickov-Palastes zwischengelagert. Die Öffnung der Bibliothek wurde für 1797 in Aussicht gestellt. Verantwortlich zeichnete Vasilij S. Popov (1743-1822), der in der Verwaltung des Kaiserlichen Kabinetts tätig war und auch die Bibliotheksverwaltung übernommen hatte. Die Arbeiten an der Neuordnung der Zauski-Bibliothek wurden jedoch nach dem Tode Katharinas II. (1796) unterbrochen, weil der neue Zar, Paul I. (1754-1801), vielen Projekten und Initiativen Katharinas ablehnend gegenüberstand. So wurde auch Vasilij Popov aus der Verwaltung des Kaiserlichen Kabinetts tlassen.

1.7 Im Jahre 1797 berief man auf die Stelle des leitenden Direktors der Kaiserlichen Bibliothek den französischen Emigranten, Diplomaten und Historiker Graf Marie-Gabriel Florent Auguste de Choiseul-Gouffier (1752-1817), der diese Position bis 1800 innehatte. Choiseul-Gouffier war der Ansicht, daß das damals im Bau befindliche Gebäude für die Zwecke der Bibliothek ungeeignet sei. Schließlich entließ Choiseul-Gouffier 1799 den Bibliothekar Michail I. Antonovskij, da dieser das Vorhaben Katharinas II. trotz der veränderten Situation in vollem Umfang zu realisieren versuchte. Man enthob Antonovskij zudem seines Amtes als Katalogisator der Bibliothek. Er hatte für sein Vorhaben die Klassifikationsprinzipien der Pariser Nationalbibliothek zugrunde gelegt. Stattdessen begann man, die Bestände auf der Grundlage eigener Vorstellungen zu ordnen. Choiseul-Gouffier trieb darüber hinaus die Übergabe der Zauski-Bibliothek an die Akademie der Wissenschaften voran. Dieser Absicht stimmte Zar Paul I. zu, und ein gewisser Teil der Bestände der Warschauer Bibliothek gelangte auf diese Weise in die Einrichtungen der Akademie. Aber bereits 1798 engagierte sich Choiseul-Gouffier, nachdem Paul I. seine Ansicht modifiziert hatte, wieder für den bereits erwähnten Bau als Bibliotheksgebäude und sprach sich gegen eine weitere Aufteilung der Zauski-Bibliothek aus.

1.8 Die eigentliche Organisationsarbeit an der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek begann erst im Januar 1800, als man den Grafen Aleksandr S. Stroganov (s. o. 1.2 ) zum leitenden Direktor der Bibliothek ernannte. Die Vorbereitungen für die Öffnung der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek wurden auch durch die Thronbesteigung Zar Alexanders I. (1777-1825) im Jahre 1801 begünstigt. Bereits 1805 richtete man in der Bibliothek auf Initiative des Grafen Stroganov einen besonderen Aufbewahrungsort für Handschriften ein: das Manuskriptdepot. Auf Stroganovs Bitte hin kaufte Zar Alexander die Handschriftensammlung des damals in Paris tätigen russischen Diplomaten und Bibliophilen Petr P. Dubrovskij (1754-1816) und übergab sie der Bibliothek. Dubrovskij war es gelungen, während der revolutionären Ereignisse 1789 in Frankreich wertvolle Handschriften des 5. bis 18. Jhs und ca. 8000 Autographen bedeutender Franzosen zu retten und nach St. Petersburg zu bringen. Zusätzlich wurde der Bestand des Manuskriptdepots um ein wertvolles altrussisches Schriftstück ergänzt, das Ostromir-Evangeliar (1056-1057).

Die Bibliothek unter der Leitung von Aleksej N. Olenin

1.9 Im Jahre 1808 wurde Aleksej Nikolaevic Olenin (1763-1843) zum Assistenten Stroganovs ernannt. Olenin war bis zu diesem Zeitpunkt im Bereich der Verwaltung des Petersburgischen Münzamtes tätig gewesen. Zudem waren ihm Organisation und Arbeit in führenden Bibliotheken der damaligen Zeit, insbesondere in Bibliotheken Deutschlands, gut vertraut. Während seines Studiums an der Dresdner Schule für Artillerie zwischen 1780 und 1785 hatte er als Leser oft die Königliche Bibliothek in Dresden besucht. Während seiner Tätigkeit an der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek hatte Olenin schon leitende Funktionen innegehabt, doch wurde er erst 1811 offiziell zum Bibliotheksdirektor ernannt, als nach dem Tode Stroganovs die Stelle des leitenden Direktors vakant wurde. Mit dem Namen Olenin verbinden sich die Eröffnungsphase der Bibliothek sowie die Ära einer erfolgreichen Bibliotheksleitung. 1809 erarbeitete Olenin das erste Regelwerk Rußlands zur Klassifizierung von Beständen und Anlage von Katalogen, das unter dem Titel Versuch einer neuen bibliographischen Ordnung für die St. Petersburgische Kaiserliche Bibliothek auf Russisch und Französisch publiziert wurde. Das in diesem Dokument vorgelegte Klassifikationsschema wurde maßgebend für die Anordnung von Beständen und Katalogen, ab Mitte des 19. Jhs auch für die Bibliotheksstruktur insgesamt.

1.10 Im Jahre 1810 verfaßte Olenin ein Bibliotheksstatut unter dem Titel Vortrag über die neue Organisation der Öffentlichen Bibliothek. Er gliederte den Bestand in drei Bereiche: Wissenschaften, Künste und Philologie. Die Wissenschaften wurden wiederum in drei Bereiche aufgeteilt: Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften und Bestimmungswissenschaften (d. h. exakte Wissenschaften). Innerhalb des Klassifikationsschemas ordnete man die Werke alphabetisch. Es ist anzunehmen, daß Olenin auf seine in der Königlichen Bibliothek zu Dresden gesammelten Erfahrungen zurückgegriffen hat, zumal diese Bibliothek bereits in den 1770er Jahren ihre Ordnungsprinzipien formuliert hatte. Das von dem Staatssekretär Zar Alexanders I., Michail M. Graf Speranskij (1772-1839), redigierte Bibliotheksstatut wurde noch 1810 rechtskräftig. Das Gesetz mit dem Titel Verordnung über die Verwaltung der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek sollte damals auch das Pflichtexemplarrecht regeln, wonach die Verlage und Druckhäuser alle im Land publizierten Drucke in zwei Exemplaren an die Bibliothek zu liefern hatten.

1.11 Im Jahre 1811 richtete man die Bibliotheksräume ein. Nach dem Vorbild der Bodleian Library in Oxford wurden im oberen Stockwerk neben den Bücherschränken leichte Holzgalerien aufgebaut. In die Bibliotheksgestaltung gingen auch die Ideen Johann Joachim Winckelmanns ein, dessen Werke Olenin in der Königlichen Bibliothek Dresden studiert hatte. Um dem Ort klassische Würde zu verleihen, erwarb man Gipsstatuen von verschiedenen Musen, von Minerva, Apoll und Merkur, sowie die Büsten großer Gelehrter und Staatsmänner des Altertums. Für Anfang 1812 war die Bibliothekseröffnung geplant, aber die akute Kriegsgefahr (der Vaterländische Krieg gegen Napoleon von 1812) verschob dieses Ereignis. Aus Sicherheitsgründen transportierte man die Handschriften und wertvollen Werke per Schiff über den Ladoga-See und den Fluß Svir' nach Lodejnoe Pole. In der Zwischenzeit erarbeitete man die Prinzipien der Bestandsgliederung sowie der Bestandsergänzung und -erschließung. Darüber hinaus wurden Dokumente vorbereitet, in denen die Bibliotheksstruktur und die interne Organisation festgelegt wurden.

1.12 Die feierliche Eröffnung der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek fand schließlich am 2. Januar 1814 statt (14. Januar nach alter Zeitrechnung), nach einer fast 20jährigen Entstehungsphase. Für die Arbeit an der Bibliothek wurden hervorragende Wissenschaftler und Schriftsteller gewonnen, die nicht nur einen großen Beitrag zur Entwicklung der russischen Wissenschaft und Kultur geleistet hatten, sondern sich auch als begabte Bibliothekare erwiesen hatten. Sie alle förderten die schnelle Entwicklung dieser Institution zur führenden Bibliothek Rußlands und machten sich um die Bibliotheksarbeit in Theorie und Praxis verdient. Von den zwischen 1811 und 1828 in der Bibliothek tätigen Mitarbeitern seien erwähnt: der Archäologe und Paläograph Aleksandr I. Ermolaev (1779-1828), der von 1812 an das Manuskriptdepot leitete; der Dichter, Dramatiker und Übersetzer Nikolaj I. Gnedic (1784-1833), der als erster Homers Ilias ins Russische übersetzte und der von 1811 bis 1831 als Bibliothekar tätig war; der Schriftsteller und Fabeldichter Ivan Andreevic Krylov (1769-1844), der in der Zeitspanne von 1812 bis 1841 als Bibliothekar arbeitete, sowie der von 1811 bis 1818 tätige Buchhändler, Verleger und Bibliograph Vasilij S. Sopikov (1765-1818).

1.13 Erwähnt sei zudem der Slawist, Paläograph und Archäologe Aleksandr Ch. Vostokov (1781-1864), ein außerehelicher Sohn des Barons Christoph I. Osten-Saken, der aus Livland stammte. Vostokov war seit 1839 Honorarprofessor der Universität Tübingen, Doktor der Universität Prag und Mitglied einer Reihe ausländischer Gesellschaften. Als Ehrenbibliothekare, die Olenin für die Bibliotheksarbeit hatte gewinnen können, waren zahlreiche zeitgenössische Gelehrte tätig. Die Zusammenarbeit mit der Bibliothek sah im einzelnen unterschiedlich aus. So engagierte man sich für die Erstellung der Kataloge, für die Erschließung der Manuskripte und ihre Veröffentlichung, für die Vorbereitung von Publikationen über die Bibliothek sowie für Schenkungen von Privatsammlungen. In diesem Zuge wurde unter Mithilfe des Philologen, Übersetzers und Verlegers Nikolaj Ivanovic Grec (1787-1867) die Drucksammlung einer nach Rußland umgesiedelten alten Adelsfamilie zur Revolution von 1848/49 erworben. Für die Erstellung des Katalogs orientalischer Handschriften war im wesentlichen der Orientalist Christian Martin Fraehn (Christian D. Fren; 1782-1851) verantwortlich.

1.14 Hauptquelle der Bestandsergänzung waren in der ersten Hälfte des 19. Jhs Zugänge nach dem Pflichtexemplarrecht. Für die Befolgung dieses Gesetzes und die Kontrolle der Zugänge auf Vollständigkeit waren die Bibliotheksmitarbeiter verantwortlich. Bei fremdsprachigen Beständen strebte man an, möglichst Neuerscheinungen zu erwerben, um dem Bestand einen Universalcharakter zu verleihen. Nach dem Stand von 1810 machten drei Viertel des Bestandes Werke zur Geschichte, Rechtswissenschaft und Literatur aus, während andere Disziplinen unterrepräsentiert waren. Wegen begrenzter Finanzmittel erwarb man jedoch in der Zeitspanne von 1811 bis 1849 nur ca. 7000 ausländische Drucke. Die Situation änderte sich erst in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jhs, als sich die Zusammenarbeit mit großen Bibliotheken, Universitäten und wissenschaftlichen Akademien Deutschlands, Englands, Belgiens und anderer Länder abzeichnete. Hinzu kam der Kauf von Büchern bei Privatpersonen aus verschiedenen Ländern, aus Deutschland z. B. bei dem bayerischen Gesandten in St. Petersburg François Gabriel Graf von Bray (1765-1832). Gleichzeitig gingen Bestände durch Höchsten Befehl und außerordentliche Beihilfe in die Bibliothek ein. Aufgrund dieser Regelung wurden der Bibliothek 1816 insgesamt 2721 Bde aus der Eremitage übergeben. Hinzu kamen Schenkungen von ausländischen Regierungen, Einrichtungen und Privatpersonen. Auch konnten durch die Vermittlung der Regierung eine Reihe von Sammlungen für die Bibliothek erworben werden. Dabei bereicherten den fremdsprachigen Bestand beträchtliche Sammlungen russischer Bibliophiler niederländischer Herkunft, wie die des Diplomaten Petr Kornilovic Graf Suchtelen (1764-1836). Seine Bibliothek umfaßte ca. 27.000 wertvolle Drucke des 15. bis 18. Jhs zur Theologie, Pädagogik, Rechtswissenschaft, Philosophie und Naturwissenschaft. Handschriftensammlungen und Rara konnten von dem Petersburger Kaufmann Aleksej I. Kasterin (1805-1847), von dem Bergingenieur Petr K. Frolov (1775-1839) und von dem Grafen Fedor A. Tolstoj (1758-1848) erworben werden.

1.15 Eine große Sammlung (ca. 3000 Bde), vornehmlich fremdsprachige Werke, stellte die Privatbibliothek des Fürsten Dmitrij I. Lobanov-Rostovskij (1758-1838) dar. Auch die von der Bibliothek angekaufte Privatsammlung des Grafen Sergej K. Vjasmitinov (1749-1812) war beachtlich; sie umfaßte 565 Bde, darunter bedeutende Rara. Die Privatbibliothek des Mitglieds der Russischen Akademie der Wissenschaften Andrej J. Italinskij (1743-1827), der auch als Diplomat tätig war, enthielt 887 Bde mit Werken antiker Autoren sowie Schriften zur Medizingeschichte. 1078 Bde kamen von der Hauptverwaltung für Zensur hinzu. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß die ursprünglich aus Polen abtransportierten Werke ebenfalls in die Bibliothek eingegliedert wurden. Nach der Unterdrückung des Warschauer Aufstandes von 1830 waren einzelne polnische Bibliotheken geschlossen und ihre Bestände nach Rußland verlagert worden. Dies hatte zur Folge, daß z. B. die Sammlung der Bibliothek der Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften (Biblioteka Warszawskiego Towarzystwa Przyjació Nauk) und einige andere Sammlungen in die Kaiserliche Öffentliche Bibliothek gelangten.

1.16 Im Rahmen dieser Aktion wurden im Jahre 1832 zwei Angehörige der Bibliothek, Aleksandr I. Krasovskij (1780-1857) und Dmitrij P. Popov (1780-1864), mit einer Sondermission nach Warschau geschickt. Sie wählten 116.446 Bde und 2200 Manuskripte aus und brachten sie nach St. Petersburg. Auch aus dem Jesuitenkolleg zu Polozk gelangten wertvolle Drucke in die Bibliothek. Im Laufe der Jahre 1832 und 1833 erhielt die Bibliothek 2157 Bde aus der Privatbibliothek des polnischen Politikers und Bibliophilen Jan Fryderyk Sapieha (1680-1751) und 7728 Bde aus der Bibliothek der Fürsten Czartoryski. Insgesamt vergrößerte sich der Bibliotheksbestand in der ersten Hälfte des 19. Jhs auf 176.000 Bde. Das Prinzip der Universalität nahm Gestalt an. Was die ausländischen Bestände anging, so wurden die jeweils neuesten fremdsprachigen Drucke berücksichtigt. Große Aufmerksamkeit wurde auch auf die retrospektive Bestandsergänzung gerichtet. Dazu trugen Pflichtexemplare, regulärer Bucherwerb, Schenkungen und Schriftentausch bei. Ab 1811 wurden auf Veranlassung Olenins hin der russische und der ausländische Bestand voneinander getrennt und die Russische Abteilung eingerichtet, um die Funktion einer Nationalbibliothek zu verdeutlichen. Im Bereich der ausländischen Literatur wurden unter der Leitung Olenins vornehmlich Werke zur Geschichte, Archäologie, Paläographie, Numismatik, Geographie, zur Klassischen Philologie und zur darstellenden Kunst angekauft. Im Gegensatz zu den Administrationen der führenden Nationalbibliotheken Europas verzichtete Olenin auf ein System gedruckter Kataloge und veranlaßte, stattdessen lediglich zwei handschriftliche Alphabetische Kataloge (einer nach Titeln, einer nach Autoren) und einen Systematischen Katalog anzulegen.

1.17 Der Bestandszuwachs machte eine Erweiterung der Bibliotheksflächen erforderlich. Zwischen 1817 und 1819 arbeitete der Architekt Carlo I. Rossi (1775-1849) an der Errichtung eines neuen Bibliotheksgebäudes. Nach seiner Idee sollte das alte Gebäude (Sokolovs Gebäudekomplex) erhalten bleiben und in den zukünftigen, großangelegten Bau eingebunden werden. Am neuen Zentralgebäude der Bibliothek arbeitete der Architekt Apollon F. Šcedrin (1796-1847). Als Kapital diente u. a. die Geldsumme, die der Kaufmann Petr D. Larin (1735-1778) der Bibliothek hinterlassen hatte. Zu seiner Ehre nannte man den großen neuen Saal auf Veranlassung Zar Nikolaus I. (1796-1855) Larin-Saal (heute Fachsaal für Schöne Literatur und Künste). Unter Olenins Verwaltung zog die Bibliothek zahlreiche Gelehrte und Schriftsteller als Mitarbeiter an, wodurch die Bibliothek in ein Asyl für Schriftsteller verwandelt wurde. Viele Mitarbeiter gaben sich allein mit der Erfüllung ihrer Pflichten als Bibliothekare nicht mehr zufrieden. Der 1843 an Olenins Stelle getretene neue Bibliotheksdirektor Dmitrij P. Buturlin (1790-1849) veränderte die Prioritäten der Bibliotheksorganisation, nicht ohne negative Reaktionen seitens der Mitarbeiter und scharfe Kritik von Zeitgenossen zu ernten. Dazu trug auch die Verkürzung der Öffnungszeiten der Lesesäle bei, die erforderlich geworden war, weil die Räume bei einsetzender Dunkelheit durch Öllampen nicht ausreichend erleuchtet wurden.

1.18 Buturlin begann aber auch damit, sich von den übrigen Mitarbeitern der Bibliothek abzusetzen, die er in erster Linie als seine Untergebenen ansah. Seit dieser Zeit wurden die Bibliothekare nicht als Gelehrte und auch nicht als Vertreter eines bestimmten Berufsstandes, sondern als Beamte betrachtet, die ihre Pflichten zu erfüllen hatten. Die Folge waren amtliche Instruktionen und Verordnungen. Andererseits wurde zur Zeit Buturlins der Versuch unternommen, die Bibliothekare zur Bestandserschließung heranzuziehen. Gegen Mitte der vierziger Jahre des 19. Jhs zeichneten sich positive Veränderungen bei der Organisation und Aufteilung der Bestände ab sowie bei der Erstellung von Katalogen einiger Abteilungen, z. B. in der Handschriften- und Graphikabteilung, in der russischen Abteilung und der Geschichtsabteilung. Auch wurde zur Zeit Buturlins die Sprachkompetenz der Mitarbeiter zu einer wichtigen Grundvoraussetzung. 1843 unterstützte der Volksbildungsminister die Forderung Buturlins, daß ein Bewerber auf einen Bibliotheksposten umfassende Sprachkenntnisse vorzuweisen habe, und zwar im Russischen, Französischen, Deutschen, Lateinischen und Griechischen. Für den Posten eines Bibliotheksassistenten waren Kenntnisse der russischen Sprache und dreier Fremdsprachen erforderlich. Darüber hinaus zeichnete sich während der Leitung Buturlins die Tendenz ab, deutsche Bibliothekare und Wissenschaftler, die in führenden deutschen Bibliotheken tätig gewesen waren, in die Bibliotheksarbeit einzubinden.

Das goldene Zeitalter der Bibliothek (1850-1917)

1.19 Zu Anfang der fünfziger Jahre des 19. Jhs begann für die Bibliothek eine Blütezeit, die eng mit dem Namen des neuen Bibliotheksdirektors, Baron Modest Andreevic Korf (Modest von Korff, 1800-1876), verbunden ist. Korf leitete die Bibliothek von 1849 bis 1861 und ging in ihre Geschichte als Reformer ein, der diese Institution zu einer der bedeutendsten Bibliotheken Europas machte. Korf sicherte die materielle Lage der Bibliothek, indem er sie in die Zuständigkeit des Kaiserlichen Hofs überführte, wodurch sich die Haushaltszuweisungen nahezu verdoppelten. Unter seiner Leitung festigte sich die Bibliotheksstruktur, d. h. die einzelnen Abteilungen bildeten sich endgültig heraus. Grundsätzlich wurde auch die Erwerbungspolitik geändert, die nun als wissenschaftlich ausgerichtete Sammeltätigkeit begriffen wurde. Als Ergebnis der Korfschen Reformen entwickelte sich die Bibliothek während einer relativ kurzen Zeit zu einer der führenden Bibliotheken Europas, sowohl im Vergleich zu den Nationalbibliotheken als auch zu den großen wissenschaftlichen Einrichtungen. Nach Korfs eigenen Worten wandelte sie sich von einer Schülerin in eine Lehrmeisterin, die im Hinblick auf Organisation, Ausstellungen und Kataloge immer mehr Nachahmer findet. Alle Initiativen Korfs sowie die Realisierung seiner Ideen wurden unter seinen Nachfolgern weiter twickelt. Im Zeitraum von 1861 bis 1882 nahm Ivan Davydovic Graf Deljanov (1818-1897), der spätere Volksbildungsminister, die Stelle als Bibliotheksdirektor ein. 1862 wurde die Bibliothek dem Volksbildungsministerium untergeordnet, 1874 erhielt sie das Recht, ausländische Drucke zu beziehen, ohne der Zensur unterworfen zu sein: dies änderte die Erwerbungspolitik ausländischer Literatur grundlegend.

1.20 Eine bedeutende Rolle bei der Bibliotheksentwicklung spielte der Assistent des Direktors, Afanasij F. Byckov (1818-1899), der seit 1844 in der Bibliothek tätig war. Von 1882 bis 1899 nahm er das Amt des Bibliotheksdirektors wahr. Byckov hatte sich durch Forschungen zur Geschichte, Archäologie und Paläographie ausgewiesen und betrachtete die Sammeltätigkeit der Bibliothek als ihre wichtigste Aufgabe. Auch zu seiner Zeit wurden Haushalt und Personalbestand der Bibliothek beträchtlich vergrößert und der Bau des neuen Gebäudekomplexes weiter vorangetrieben. Byckovs Verdienst besteht jedoch vor allem darin, daß zu seiner Amtszeit die Bibliotheksbestände beträchtlich erweitert wurden. Sie wurden intensiv und regelmäßig auch um inländische Drucke ergänzt, wie es die Funktion einer Nationalbibliothek erforderte. So betrug der Bestand der Rossika-Abteilung um 1880 bereits 140.000 Bde. Die Ergänzung dieses Bestandes wurde durch das Pflichtexemplarrecht ermöglicht, wenn auch nicht immer garantiert war, daß die Bibliothek alle Pflichtexemplare erhielt.

1.21 Insgesamt gelang es Byckov, die Lücken bei den inländischen Beständen zwischen 1880 und 1890 systematisch zu schließen, wodurch der Bibliothek mehr als 7500 Bde zukamen. 1896 wurde ein neuer Gebäudekomplex angelegt, der nach den Plänen von Evgraf S. Vorotilov (1837-1910) entstand und parallel zu dem Gebäudeabschnitt des Architekten Rossi verläuft. Für den im neuen Gebäudeblock eingerichteten Hauptlesesaal (heute Fachlesesaal für Technik und Medizin), der 1901 geöffnet wurde, sind zwei beiderseits des Lesesaals verlaufende Fensterreihen charakteristisch, die das Beleuchtungsproblem lösen. Dieser Lesesaal wurde unter dem neuen Bibliotheksdirektor, dem Militärhistoriker und Generalleutnant Nikolaj K. Schilder (1842-1902), eröffnet. 1902 übernahm der Staatsmann und Historiker Dmitrij F. Kobeko (1837-1918) die Direktorenstelle bis Januar 1918. Zu Anfang des 20. Jhs (1900-1917) steigerte sich das Tempo bei der Erweiterung der Bibliotheksbestände: sie wuchsen in diesen Jahren auf 1.118.000 Bde.

1.22 Am 14. April 1850 trat auf Veranlassung Korfs eine neue Bibliotheksstruktur in Kraft. Die Bibliotheksbestände gliederten sich in folgende Abteilungen: Russische Werke und Periodika; Sprachkunde; Werke griechischer und römischer Klassiker; Literaturgeschichte; Polygraphie; Rechtswissenschaft; Theologie; Philosophie; Schöne Literatur; Medizin und Naturwissenschaften; Freie und Schöne Künste; Mathematik und Technologie; Orientalische Werke; Inkunabelsammlung und Handschriftensammlung. Bald kam die Rossika-Abteilung hinzu. Von da an waren die Abteilungen selbständige administrative Bibliothekseinheiten. Jeder Abteilungsleiter war für die Erwerbungspolitik, die Katalogisierung und die Bestandserhaltung seiner Abteilung verantwortlich. Zudem wurde ein verbindliches Katalogsystem eingeführt, das einen Systematischen, einen Alphabetischen und einen sogenannten Listenkatalog mit Inventar umfaßte. Darüber hinaus wurden drei Aufgabenbereiche für die Bestandspflege und -erschließung festgelegt, die jede Abteilung zu beachten hatte. Sie umfaßte die Erschließung aller in der Bibliothek vorhandenen Werke, ihre befriedigende Unterbringung und die Erstellung der Kataloge. Diese Verordnung war für die weitere Bibliotheksentwicklung von großer Bedeutung und behielt ihre Gültigkeit für einen Zeitraum von achtzig Jahren.

1.23 Die Bibliotheksabteilungen wurden von hervorragenden Bibliothekaren und Gelehrten geleitet. Genannt sei Vasilij I. Sobol'šcikov (1808-1872), der ab 1850 die Abteilung Kunst und Technologie leitete. Nach dem Tode Sobol'šcikovs nahm für 34 Jahre der Kunsthistoriker Vladimir V. Stasov (1824-1906), ein renommierter Musik- und Kunstkritiker, diese Stelle ein. Er nahm sich insbesondere russischer Maler, Schriftsteller und Komponisten an, die er bei ihren bibliographischen Recherchen unterstützte. Seit 1849 war Sobol'šcikov auch für die Sammlung fremdsprachiger Drucke über Rußland, die Rossika-Sammlung, zuständig. Außerdem arbeitete er an der Erstellung des dazugehörigen Alphabetischen Kataloges, am Inventarkatalog und an dem zugehörigen Klassifikationsschema. Ab 1844 galt er offiziell als Architekt der Bibliothek.

1.24 Im Jahre 1859 erhielt Sobol'šcikov die Möglichkeit, die Arbeitsprozesse in großen Bibliotheken Europas kennenzulernen, so in Deutschland, Österreich-Ungarn, Belgien, Frankreich und Großbritannien. Eine Analyse seiner Tätigkeit in ausländischen Bibliotheken, insbesondere in der Königlichen Bibliothek in Dresden und den Bibliotheken Berlins und Münchens, legte Sobol'šcikov mit der Übersicht der großen Bibliotheken Europas Anfang 1859 (russisch; St. Petersburg 1860) vor. So richtete er in der Königlichen Bibliothek München besondere Aufmerksamkeit auf die Kataloge und das Klassifikationsschema Martin Schrettingers. An der Königlichen Bibliothek Berlin waren für ihn in erster Linie die dort gesammelten Erfahrungen im Bereich der Bestandserhaltung von Interesse, von denen Petersburger Bibliotheken später profitieren sollten. Im Jahre 1870 wurde Sobol'šcikov zum Leiter des 1860/62 errichteten Lesesaals in Rossis Gebäude ernannt, der von Zeitgenossen als bester Lesesaal der damaligen Zeit bezeichnet wurde. Der Saal war mit Neuerungen wie Bücherhebevorrichtungen, Lüftungs- und Feuerschutzanlagen ausgestattet. Sobol'šcikov ist der Autor maßgeblicher Werke zum Bibliothekswesen, z. B. Principes pour l'organisation et la conservation des grandes bibliothèques (Paris 1859). Er gilt als Begründer der russischen Bibliothekswissenschaft.

1.25 Zu weiteren Abteilungsleitern wurden die von Direktor Buturlin aus Deutschland angeworbenen Bibliothekare und Gelehrten ernannt. Von 1849 bis 1873 beschäftigte die Bibliothek Carl Heinrich Ludwig Becker (1821-1883), einen Absolventen der Universität Göttingen, der die Medizinische, Mathematische und Naturwissenschaftliche Abteilung betreute. Seine Bemühungen veranlaßten Korf zu der Bemerkung, daß die Sammlungen sich von ihrem früheren beklagenswerten Zustand in einen exzellenten Bestand verwandelten und trotz der begrenzten Mittel der Bibliothek den wissenschaftlichen Standard, wie er im Westen üblich ist, erreichten. Boris A. [Bernhard] Dorn (1805-1881), ehemaliger Privatdozent an der Universität Leipzig, war ab 1844 mit der Bibliothek verbunden. Zuerst leitete er die Orient-Abteilung und von 1850 bis 1864 die Theologische Abteilung. Ein anderer bedeutender Mitarbeiter (von 1847 bis 1883) war Rudolf Karl Minzloff (1811-1893), Doktor der Philosophie der Universität Königsberg. Er leitete die Philosophie-Abteilung, die Inkunabel-, Aldinen- und Elzeviersammlungen. Diese Frühdruckabteilung war in einem besonderen Zimmer, dem Faust-Kabinett, untergebracht, das nach Plänen des Architekten Ivan I. Gornostaev (1821-1874) als spätmittelalterliche westeuropäische Klosterbibliothek gestaltet worden war. Christoph[or] Friedrich Walther (1809-1886), Doktor der Philosophie an der Universität Leipzig, war von 1848 bis 1885 Bibliothekar der polygraphischen und später der juristischen Sammlungen.

1.26 Zur Zeit Korfs wurden andere wichtige deutsche Bibliothekare in den Bibliotheksdienst berufen, die die deutsche Kolonie der Bibliothek ergänzten. Da bei weitem nicht alle von ihnen über ausreichende russische Sprachkenntnisse verfügten, wurde Deutsch in der Bibliothek zu einem gewissen Grad zweite Arbeitssprache. Unter diesen Bibliothekaren, die zur weiteren Entwicklung der Bibliothek einen großen Beitrag leisteten, befanden sich auch Mitarbeiter der mittleren Ebene, z. B. der von 1859 bis 1863 angestellte sächsische Untertan Voldemar Pfaff, der den Systematischen Katalog zur Rechtswissenschaft und zu den Politischen und Statistischen Wissenschaften erstellte. Nach der Pensionierung Beckers leitete der Entomologe Friedrich Theodor Köppen (1833-1908) von 1873 bis 1908 die naturwissenschaftliche Abteilung. Ebenso bedeutsam ist die Rolle des Historikers und Philosophen Moritz Konrad Posselt (1804-1875), der in seiner mehr als zwanzigjährigen Tätigkeit an der Bibliothek zunächst die Geschichts-Abteilung und danach, ab 1856, die Abteilung Rechtswissenschaft leitete. In der Amtszeit Korfs kamen auch Gelehrte aus den baltischen Provinzen an die Bibliothek. Zwei Namen verdienen dabei Erwähnung: Jegor Berckholz (1817-1885), gebürtig aus Livland und ausgebildet in Riga und Dorpat, blieb fünf Jahre an der Bibliothek (1856-1861). Als Leiter der Rossika-Abteilung erstellte er Alphabetische und Systematische Kataloge für diese Abteilung. Der zweite war Viktor Amandus Gen (1813-1890), geboren und ausgebildet in Dorpat. Er gehörte von 1855 bis 1873 zum Personal und leitete die Historische Abteilung. Korf hatte von beiden eine hohe Meinung, beschrieb sie als gebildet und intelligent, fleißig und gewissenhaft und schloß in Französisch: Ce sont les perles de la Bibliothèque.

1.27 Mit der Zeit nahm die deutsche Kolonie einen solchen Umfang an, daß Deutsch zusammen mit Russisch in der Tat zur Verkehrssprache an der Bibliothek wurde. Ohne Zweifel trug der Anteil der deutschen Mitarbeiter dazu bei, daß das Konzept einer wissenschaftlichen Bibliothek, so wie es sich in Deutschland im 19. Jh herausgebildet hatte, an der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek angewendet wurde. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß Anfang der sechziger Jahre des 19. Jhs die deutschen Bibliothekare zunehmend in die Kritik gerieten. Von Zeit zu Zeit ergaben sich Konflikte, da die Bibliothek nicht vollständig nach deutschem Vorbild organisiert werden konnte. Die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse in Rußland, die von Zar Alexander II. (1818-1881) durchgeführten Reformen (etwa die Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861) hatten keinen Einfluß auf den Arbeitscharakter der größten Bibliothek Rußlands der damaligen Zeit. Bei einer Besprechung der neuen Bibliotheksstatuten wurden die Meinungsverschiedenheiten zwischen den deutschen Mitarbeitern und ihren russischen Kollegen offenkundig. Eduard von Muralt, Rudolf Karl Minzloff, Christoph[or] Friedrich Walther, Moritz Konrad Posselt u. a. schlugen vor, im neuen Statut festzulegen, daß die Rolle der Bibliothek von gesellschaftlichen Veränderungen unabhängig sein solle: Die staatlichen Bibliotheken sind eigentlich die Archive der menschlichen Kenntnisse aller Zeiten. Ihre Bedeutung geht viel weiter [als das] praktische Ziel, dessen Wesen in der Verbreitung nützliches Wissens besteht. Sobol'šcikov und seine Anhänger hingegen beharrten auf einer stärkeren Ausrichtung der Bibliothek auf die Leserbedürfnisse, auf die Rücknahme der Benutzungsbeschränkungen und auf die Verlängerung der Öffnungszeiten.

1.28 Die Bibliotheksbestände wurden durch Sammlungen aus anderen Bibliotheken und durch Ankauf von Privatsammlungen erheblich ergänzt. So erhielt die Bibliothek im Jahre 1850 insgesamt 1215 Bde aus der Bibliothek in Carskoe Selo und zwischen 1852 und 1862 ca. 600 Bde aus der Eremitage. Diese Zugänge umfaßten neben Handschriften, Musikdrucken und Schriften zu verschiedenen Wissenschaftsgebieten die vollständigen Fachabteilungen der Eremitage-Bibliothek zur Theologie, Medizin und Jurisprudenz. In den Bestand ging zu dieser Zeit auch die Bibliothek von Voltaire ein. Sie wurde katalogisiert und unter der Leitung von Ivan D. Graf Deljanov als eigenständige Sammlung aufgestellt. Zur Korfs Zeiten begann die Regierung, den Ankauf großer Privatsammlungen mit beträchtlichen Subventionen zu unterstützen. So konnte die bedeutende Sammlung des Historikers und Journalisten Michail P. Pogodin (1800-1850) erworben werden, die 1000 Bde venetianischer und slawischer Drucke umfaßte. Auch die Privatsammlung des Historikers und Linguisten Fedor P. Adelung (Friedrich von Adelung, 1768-1843) wies zahlreiche Rara auf.

1.29 Viele der erworbenen Sammlungen bereicherten die Bestände der Bibliotheksabteilungen in erheblichem Maße. So wurde 1851 durch Vermittlung des Schriftstellers, Journalisten und Verlegers Nikolaj I. Grec (1787-1867) eine Flugblattsammlung zur Revolution von 1848 in Berlin angekauft. Im Jahre 1854 gelangte eine Sammlung von Broschüren zur Revolution von 1848 in den deutschen Ländern in die Bibliothek. Diese Sammlung umfaßt 124 Titel aus den Jahren 1848 bis 1850. Während dieser Jahre wurden auch die Bestände der Abteilung Medizin und Naturwissenschaften beträchtlich ergänzt. Die Jahreszugänge dieser Abteilung betrugen im Durchschnitt ca. 2000 Bde. Hinzu kamen Privatbibliotheken wie die 5300 Bde umfassende Sammlung des Mediziners Josif C. Hamel (1788-1861), die medizinische Sammlung des Straßburger Mediziners Thomas Laut (6000 Bde) und die bemerkenswerte Sammlung des deutschen Botanikers Karl Martius (1798-1868). Ferner setzte die Bibliothek ihre Politik fort, einzigartige Drucksammlungen oder zumindest Werke daraus zu erwerben. Dazu zählte die Privatbibliothek des Kanzlers und Fürsten Viktor P. Kocubej (1768-1834), die 2429 Bde zählte, darunter zahlreiche seltene Drucke. Diese Sammlung wurde der Bibliothek 1877 von dem Sohn des Fürsten, Sergej V. Kocubej, übergeben.

1.30 Auf Initiative Korfs änderte sich die Erwerbungspolitik für moderne ausländische Literatur. Schritt für Schritt gelang es ihm, die Einwände Zar Nikolaus I. (1796-1855) zu entkräften. Der Zar hielt den Schriftentausch für inakzeptabel, weil dabei russische Werke ins Ausland geschickt wurden. Die erste Einrichtung, mit der es einen fest etablierten Schriftentausch gab, war die Akademie der Wissenschaften Frankreichs. Zu dieser Beziehung hatte der Schriftsteller Prosper Mérimée wesentlich beigetragen. Ein tatkräftiger Helfer Korfs bei den Reformen der Erwerbungspolitik war sein Stellvertreter, der Schriftsteller, Musikwissenschaftler und Philosoph Vladimir Fedorovic Odoevskij (1804-1869). Als Philosoph betrachtete er die Bibliothek als eine Einrichtung, die eine besondere Rolle bei der Entwicklung der Menschheitsgeschichte spiele und von deren Entwicklung der Fortbestand der Wissenschaft selbst abhänge. Seiner Meinung nach war eine solche Zielsetzung für das damalige Rußland von besonderer Bedeutung. Infolgedessen richtete Odoevskij als stellvertretender Direktor sein Augenmerk beim Erwerb ausländischer Literatur auf diejenigen Gebiete, in der sich die neuesten Entwicklungen vollzogen und die in der Bibliothek besonders schwach repräsentiert waren: Physik, Chemie, Naturwissenschaften, Mathematik und Geologie.

1.31 Im Jahre 1856 wurden dauerhafte fachliche Beziehungen zu den größten Bibliotheken Europas geknüpft, z. B. zu Bibliotheken in Wien, Dresden und Stuttgart. Unter den dreißig größten Universitäten, mit denen Kontakte gepflegt wurden, waren auch die drei maßgeblichen Universitäten Deutschlands: Berlin, Göttingen und Heidelberg. So erhielt etwa die Bibliothek im Jahre 1870 von der Universität Göttingen 68 Bde, von Bonn 62, von Erlangen 217, von Freiburg 111, von Jena 95 und von Königsberg 94 Bde. Zur weiteren Zusammenarbeit trugen auch die europäischen Dienstreisen Korfs bei, die er in den Jahren 1851, 1856 und 1860 unternahm. Im Ausland schuf Korf ein verzweigtes Netz von Kommissionären, von Amsterdam über London und New York bis Paris. Zum führenden Kommissionär wurde der in Frankfurt a. M. ansässige Buchhändler Joseph Baer. In Deutschland waren Julius Petzholdt (Dresden), Gustav V. Schmidt (Halle), Friedrich Lorenz Hoffmann (Hamburg), Georg Friedrich Wiedemann (München), Václav Hanka (Prag) und Auer (Wien) als Kommissionäre tätig. Da unter Direktor Byckov trotz des engen Etatrahmens die Beschaffung ausländischer Literatur erweitert werden sollte, führte Byckov selbst die Verhandlungen zum Schriftentausch mit ausländischen Bibliotheken, obwohl diese Aufgabe offiziell der Kommission für den ausländischen Büchertausch an der Bibliothek oblag. Zu Beginn des 20. Jhs erhielt die Bibliothek durch den Schriftentausch jährlich durchschnittlich 11.000 Bde.

1.32 Zur Korfs Zeiten begann man, den Status des Ehrenbibliothekars neu zu formulieren. Es wurden zwei neue Varianten dieses Status eingeführt: das Ehrenmitglied und der Ehrenkorrespondent. Als Ehrenmitglieder wurden die Personen ausgewählt, die ihre Bekanntheit durch ihre Liebe zur Aufklärung und zur Bibliothek erlangt hatten. Zu Ehrenkorrespondenten wurden Bibliothekare und Buchhändler, durch deren Bemühungen, Zusammenarbeit oder Spenden ein Nutzen oder die Förderung der Bibliothek erwartet werden kann. Sie verpflichteten sich, die Bibliothek finanziell zu unterstützen und zur Rara-Beschaffung beizutragen. Durch die Unterstützung seitens der Ehrenmitglieder und Ehrenkorrespondenten verbesserte sich die Bestandslage, sowohl bei modernen als auch bei älteren Drucken. Die Bestandsergänzung vollzog sich auch bei der ausländischen Literatur und besonders beim Germanica-Bestand. Die Ehrentitel wurden Staatsmännern und Persönlichkeiten wie Gelehrten, Bibliographen und Buchhändlern verliehen, die sowohl in Rußland als auch in anderen Staaten tätig waren. An Vertretern Deutschlands wurden 1850 folgende Personen als Ehrenmitglieder ausgewählt: der Direktor der Bayerischen Hof- und Staatsbibliothek München, Philipp Lichtenthaler (1778-1857), der Direktor der Universitätsbibliothek Königsberg, Christian August Lobeck (1781-1860), der Oberbibliothekar der Königlichen Bibliothek Berlin, Georg Heinrich Pertz (1795-1876), und der Professor an der Marburger Universität, Dietrich Christoph Rommel (1781-1859). Im Jahre 1857 kam als Ehrenmitglied der Leipziger Orientalist Gustav Leberecht Flügel (1802-1870) hinzu. Unter den Ehrenmitgliedern waren auch deutsche Gelehrte aus den baltischen Ostseeprovinzen Rußlands. So wurde 1850 Friedrich Georg Bunge (1802-1880) zum Ehrenmitglied ernannt, Professor der Universität Dorpat, ein Forscher im Bereich des Ostseerechts sowie Bürgermeister und Syndikus der Stadt Reval. Die deutschen Ehrenmitglieder trugen wesentlich zur Ergänzung der Bibliothekssammlungen bei. So hatte der 1865 zum Ehrenmitglied ernannte Professor für Theologie an der Leipziger Universität, Konstantin von Tischendorf (1815-1874), eine einzigartige Sammlung griechischer und orientalischer Handschriften zusammengetragen, die später von der Bibliothek käuflich erworben wurde.

1.33 An weiteren Ehrenkorrespondenten und Mitarbeitern an deutschen Bibliotheken seien u. a. erwähnt der Oberbibliothekar der Universitätsbibliothek Marburg und Abgeordnete der Deutschen Nationalversammlung, Karl Christian Sigismund Bernhardi (1799-1874), der Bibliothekar der Universitätsbibliothek und Professor der Universität Göttingen, Karl Friedrich Christian Höck (1793-1877), der Bibliothekar der Stadtbibliothek Mainz, Philipp Hedwig Külb (1806-1869), der Direktor des Botanischen Gartens Hamburg, Johann Georg Christian Lehmann (1792-1860), der Bibliothekar der Herzoglichen Bibliothek Wolfenbüttel, Karl Philipp Christian Schönemann (1801-1855), der Hauptbibliothekar der Öffentlichen Bibliothek Stuttgart, Christoph Friedrich von Stälin (1805-1873), und der Oberbibliothekar der Universitätsbibliothek Breslau, Peter Joseph Elvenich (1796-1886). Hinzu kommen die 1856 ernannten Ehrenkorrespondenten, wie der Bibliothekar der Königlichen Bibliothek München, Georg Friedrich Wiedemann (1789-1864), und der Oberbibliothekar der Wiesbadener Bibliothek, Joachim Dietrich Gottfried Seebode (1792-1868). Unter den Ehrenkorrespondenten waren vor allem die Mitarbeiter der Königlichen Bibliothek Dresden vertreten, so ab 1850 der Oberbibliothekar Konstantin Karl Falkenstein (1801-1855) und ab 1854 der Oberbibliothekar Gustav Friedrich Klemm (1802-1867), dazu ab 1857 der Bibliothekar der Universitätsbibliothek Leipzig, der Orientalist Christoph Ludolf Ehrenfried Krehl (1825-1901). Unter den Ehrenkorrespondenten waren auch Buchhändler aus Leipzig, z. B. ab 1850 Theodor Oswald Weigel (1812-1881), der für die Kaiserliche Bibliothek als Vermittler beim Ankauf ausländischer Schriften tätig war, sowie Leopold Voss (1793-1868) und ab 1856 Rudolf Weigel (1804-1867). Einen Beitrag zur Bestandserweiterung leistete auch der Hannoveraner Buchhändler und Verleger Heinrich Wilhelm Hahn (1795-1873), der der Bibliothek 1860 alle aus seinem Katalog ausgewählten Werke schenkte und der 1863 den Status des Ehrenkorrespondenten erhielt. Zudem befanden sich unter den Ehrenkorrespondenten zunehmend Gelehrte, so Georg Christian Friedrich Lisch (1801-1883), Leiter des Archivs des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin.

Die Öffentliche Bibliothek nach 1917

1.34 Im Januar 1918 wurde der Philologe Ernst Leopold Radlov (1854-1928) zum Bibliotheksdirektor ernannt. Er nahm an der Vorbereitung des ersten sowjetischen Bibliotheksstatuts teil, das danach von dem Volkskommissar der Volksbildung, Anatolij V. Lunacarskij (1875-1933), bestätigt wurde. Nach dem neuen Statut wurde die Russische Öffentliche Bibliothek als Nationalbibliothek bezeichnet. Radlov wurde zum Leiter des international ausgerichteten Schriftentauschbüros. Ein Hauptverdienst Radlovs besteht darin, daß es ihm gelang, nicht nur den Kreis der Bibliotheksmitarbeiter zu erweitern, sondern auch die vor der Revolution tätigen Angestellten, die sogenannten Vertreter des Bürgertums, vor Entlassungen zu bewahren. Damit konnte das wissenschaftliche Potential der Bibliothek erhalten werden. 1924 wurde der Philologe Nikolaj J. Marr (1864-1932) zum Bibliotheksdirektor ernannt. Gemäß der Verordnung des Rats der Volkskommissare der RSFSR (der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik) wurde der Bibliothek im Februar 1925 die Bezeichnung Staatliche Öffentliche Bibliothek Leningrad verliehen. Die Funktion einer Nationalbibliothek hingegen ging in diesem Jahr an die Staatliche Öffentliche Lenin-Bibliothek in Moskau über.

1.35 Unter der Leitung von Marr wurde die gesamte Bibliotheksstruktur nach einem Schema neu organisiert, das zuvor vom Bibliotheksausschuß der Wissenschaftshauptverwaltung unter Leitung des Bildungsvolkskommissariats ausgearbeitet worden war. Die Bestände der alten, damals bestehenden Abteilungen wurden dabei im ganzen erhalten. Nach der neuen Struktur wurden in der Bibliothek neue, funktionelle Sektionen (Abteilungen) eingerichtet: die Erwerbungs- und Katalogisierungsabteilung, die Konservierungsabteilung, die Benutzungsabteilung und der bibliographische Auskunftsdienst. Innerhalb dieser Sektionen wurden Sonderabteilungen eingerichtet: u. a. die Handschriften- und Rara-Abteilung; die Inkunabel-Abteilung, die Abteilung Aldinen und Elzeviere; die Abteilung Literatur der Völker der UdSSR; die Hebraica-Abteilung; die Notenabteilung; die Graphikabteilung und die Kartographische Abteilung. Seit 1931 werden neue Kataloge für die laufenden Zugänge geführt, darunter Alphabetische, Systematische und Sachkataloge. 1932 wurde der Bibliothek der Name des russischen Schriftstellers Michail Evgrafovic Saltykov-Šcedrin verliehen. In den dreißiger Jahren wurde das System der allgemeinen und wissenschaftlichen Lesesäle eingeführt, die für das breite Publikum oder für wissenschaftliche Benutzer bestimmt waren. In beiden Fällen wird der Benutzerservice nach dem Fachprinzip geführt, wobei tsprechende Handapparate und bibliographische Auskunftsstellen geschaffen wurden. Zur gleichen Zeit bildete sich auch ein Benutzerservice heraus, wonach die Drucke den Lesern in entsprechenden Spezialabteilungen bereitgestellt werden (z. B. in der Zeitungsabteilung, der Kartographischen Abteilung oder im Kabinett für die Bibliothekswissenschaft).

1.36 Nach der Verstaatlichung der Bibliotheken und Institutionen und der Auflösung von Privatbibliotheken erhielt die Staatliche Öffentliche Bibliothek Leningrad eine große Anzahl von Drucksammlungen, so etwa von der Bibliothek der Freien Ökonomischen Gesellschaft, von der Bibliothek der Staatsduma (d. h. vom Staatsrat), von der Bibliothek der Petersburger Geistlichen Akademie und von zahlreichen anderen Einrichtungen. Unter den eingegangenen Privatsammlungen befanden sich die Rara-Sammlung zum römischen Recht und zur römischen Philologie des Professors Michail Vasil'evic Nikol'skij (1848-1917), weiterhin die vornehmlich ausländische Drucke des 17. und 18. Jhs umfassende Privatbibliothek der Fürsten Orlov und zahlreiche andere Sammlungen. Die 1918 begonnene Umsetzung der Drucke aus dem Staatlichen Buchbestand in die Staatliche Öffentliche Bibliothek zog sich nahezu bis 1941 hin, bis dieser Prozeß durch den Ausbruch des Großen Vaterländischen Krieges unterbrochen wurde. Der Staatliche Buchbestand selbst wurde 1936 als selbständige Einrichtung aufgelöst und die Drucke wurden vollends der Staatlichen Öffentlichen Bibliothek übergeben. Die Bibliothek kaufte auch Werke von Privatpersonen, deren Bibliotheken nicht unter das Verstaatlichungsgesetz gefallen waren. Im Zeitraum von 1918 bis 1919 erwarb die speziell dafür eingerichtete Sektion des Komitees der Staatlichen Bibliotheken insgesamt 108.269 Bde bei Privatpersonen, darunter die Privatsammlungen des Erforschers des Napoleonischen Krieges, K. A. Voenskij, des Professors für internationales Recht und internationale Beziehungen, Friedrich F. Martens (1845-1909), sowie die Sammlungen der Historiker und Juristen Ivan M. Grevs (1860-1941), D. D. Grin und Michail A. D'jakonov (1855-1919). 1928 wurde der Bibliothek die Privatsammlung des marxistischen Philosophen Georgij V. Plechanov (1856-1918) übergeben. Zu Beginn der dreißiger Jahre stieg der Bibliotheksbestand auf 5,5 Millionen Bde.

1.37 Im Jahre 1940 ging aus der Bestandsinventur hervor, daß das ausländische Schriftgut zu diesem Zeitpunkt 1.980.000 Bde umfaßte und damit die größte Sammlung an ausländischen Werken in Rußland darstellte. In den dreißiger Jahren war nach dem Friedensvertrag zwischen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik und Polen, der 1921 in Riga ratifiziert worden war, der Hauptteil der Zauski-Bibliothek der polnischen Seite zurückgegeben worden. Noch während des Großen Vaterländischen Krieges (1941-1945) gingen in die Bibliothek die im Krieg erbeuteten Bestände aus dem damaligen deutschen Reich ein (insgesamt erhielt die Bibliothek ca. 40.000 Drucke, Monographien und Zeitschriften). Nach 1945 wurde damit begonnen, die eingetroffenen Drucksammlungen aus Berlin, Bremen, Hamburg, Leipzig, Lübeck und Magdeburg mit dem Generalkatalog der Bibliothek zu vergleichen. Die dabei ermittelten Doppelexemplare wurden dem Dublettenbestand der Sektion Fremdsprachige Drucke übergeben, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aufgelöst wurde. Ein Teil dieses Bestandes gelangte in die Hauptbestände der Bibliothek, später wurden die Dubletten in den Tauschbestand der ausländischen Drucke übergeben. Alle im Kriege erbeuteten Drucke sind erfaßt und in einem Spezialkatalog erschlossen.

1.38 Im Jahre 1941 wurden die wertvollen Bibliotheksbestände in die Stadt Melekess (Gebiet Uljanovsk) abtransportiert, wo sie von Sommer 1941 bis Oktober 1945 lagerten. Ein beträchtlicher Teil der in der Stadt verbliebenen Bestände wurde in den Kellern des Hauptgebäudes der Bibliothek untergebracht. Obwohl das Stadtzentrum, in dem sich auch das Bibliotheksgelände befindet, ab dem 8. September 1941 und während der Jahre 1942 und 1943 beschossen wurde, haben die Bibliotheksgebäude keinen Schaden genommen. Die Bibliothek wurde in den Kriegsjahren und etwas darüber hinaus, zwischen 1941 und 1946 von der Direktorin Elena F. Egorenkova geleitet.

1.39 Gegen Ende der fünfziger Jahre nahmen die Funktionen der Bibliothek zu, die sie als nunmehrige Nationalbibliothek der Russischen Föderation zu erfüllen hatte, d. h. zu den traditionellen Funktionen einer Nationalbibliothek kamen z. B. Forschungen im Bereich der Bibliothekswissenschaft und die Koordination der Forschungsarbeit im Bereich des Bibliothekswesens der Russischen Föderation hinzu. Die eigentlich bedeutsamen Veränderungen im Bibliotheksleben machten sich seit Mitte der achtziger Jahre bemerkbar, seit Anfang der Perestroika. Zum Bibliotheksdirektor wurde in dieser Zeit Vladimir N. Zaitsev (*1938) ernannt. Aufgrund eines Erlasses des damaligen Präsidenten der Russischen Föderation, Boris Jelzin, setzte die Staatliche Öffentliche Bibliothek ihre Tätigkeit als Nationalbibliothek fort, was 1992 durch ihren neuen Namen Russische Nationalbibliothek bekräftigt wurde. Nach dem 1994 von der Staatsduma verabschiedeten Gesetz zum Bibliothekswesen der Russischen Föderation gilt die Nationalbibliothek seitdem neben der Russischen Staatsbibliothek Moskau als eine von zwei gleichrangigen Nationalbibliotheken in Rußland.

1.40 Im Jahre 1950 wurde ein weiteres Gebäude der Bibliothek angegliedert, das zwischen 1804 und 1807 am Fontanka-Ufer (Nr. 36) unter dem Architekten Giacomo Quarenghi (1744-1817) errichtet worden war und in dem das Ekaterinskij Institut (Katharina-Institut) für adelige Frauen untergebracht war. In diesem Gebäude wurden die allgemeinen Lesesäle und die Spezialabteilungen eingerichtet, wie die Zeitungs- und Notenabteilung. Hier wurden später auch Räume für die Konservierungs- und Restaurierungsabteilung bereitgestellt. Anfang der siebziger Jahre, zur Zeit des Direktors Leonid A. Šilov (*1928), begann man, intensiv nach Lösungen für die Errichtung eines neuen Bibliotheksgebäudes zu suchen. Nach einer Reihe von Realisierungsvorschlägen stimmte der Rat des Ministeriums der Russischen Föderation dem Plan zu, das neue Gebäude auf dem Moskovskij Prospekt zu errichten. In dem Zeitraum von 1978 bis 1983 erarbeiteten die Architekten Vladimir N. Šcerbin (1930-1996) und Lidija K. Waršavskaja einen Entwurf. Die erste Baustufe begann am 27. Mai 1998. Das neue Gebäude ist für 20 Millionen Bde und 2000 Leseplätze konzipiert. Die Bibliothek wird jedoch ihre beiden Gebäude (Sadovaja Str. 18 und Fontanka-Ufer 36) beibehalten. Nach dem Baukonzept sollen in dem neuen Gebäude alle nach 1930 erschienenen Drucke untergebracht werden. In den historischen Bibliotheksgebäuden verbleiben die bis 1930 erschienenen Drucke, sowohl die Hauptbestände als auch die Spezialbestände, deren Lesesäle auch weiter bestehen werden. Der Teil der Spezialbestände, die sich im Gebäude am Fontanka-Ufer 36 befinden, behält denselben Standort bei, und die Lesesäle werden ihren Aufgaben weiter nachkommen. Für die alten und neuen Bibliotheksgebäude wurde ein einheitlicher Benutzerausweis erstellt, der es jedem Leser ermöglicht, sowohl die Haupt- als auch die Spezialbestände zu nutzen. Somit wird das ältere System der Fachlesesäle für Wissenschaftler (im Gebäude Sadovaja Str. 18) und der allgemeinen Lesesäle für das breite Publikum (im Gebäude am Fontanka-Ufer 36) hinfällig.

1.41 Die Russische Nationalbibliothek ist heute eine der größten wissenschaftlichen Universalbibliotheken. Der Bibliotheksbestand umfaßt mehr als 32 Millionen Bde und wird jährlich um mehr als 500.000 Drucke aller Fächer in verschiedenen Sprachen ergänzt. Seit 1810 besteht für die Bibliothek das Anrecht auf ein kostenloses Pflichtexemplar. Durch den internationalen Schriftentausch ist die Bibliothek mit 2600 Organisationen und Einrichtungen in 109 Ländern der Welt verbunden. Die Forschungsarbeit der Bibliothek ist vor allem auf Bibliothekswissenschaft, Bibliographie und Buchgeschichte ausgerichtet. Die Bibliothek arbeitet an der Erstellung von Gesamtkatalogen und bibliographischen Handbüchern, die die Bibliotheksbestände erschließen. Einen besonderen Platz bei der Forschungsarbeit nimmt die Zusammenarbeit mit ausländischen Organisationen ein, gerade im Hinblick auf die Erarbeitung internationaler Projekte im Bereich des Bibliothekswesens.

1.42 Unter den neuen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen haben sich die Möglichkeiten der Russischen Nationalbibliothek grundsätzlich verbessert. Sie kann an internationalen Projekten teilnehmen und neue Kontakte zu ausländischen Bibliotheken knüpfen. Im Rahmen von LIBER entstand z. B. eine wichtige Initiative zur Schaffung einer Datenbank für das europäische Buch der Handpressenzeit (1450-1830): das Consortium of Research Libraries. Seit den frühen neunziger Jahren arbeitet die Bibliothek an der Umstellung von herkömmlichen Katalogsystemen auf EDV-Kataloge. In diesem Zuge wurde sowohl das kommunikative Format der bibliographischen Einträge in maschinenlesbarer Form ausgearbeitet als auch das innere Format für die autoritativen Daten vorbereitet. Zusätzlich werden für die autoritativen Dateien der Bibliothek nach und nach alle Titel im EDV-Katalog erfaßt. Die wichtigsten Schritte der Bibliotheksentwicklung sind in dem Konzept Auf dem Weg in die Zukunft die Traditionen erhaltend skizziert.

Bestandsgeschichte der einzelnen Abteilungen

Abteilung Philologie, Sammlung römischer und griechischer Klassiker

1.43 Die Abteilung Philologie entstand 1850. Den Grundstock des Bestandes bildete Literatur aus der Bibliothek der Gebrüder Zauski (s. o. 1.3), später kamen Titel aus der Eremitage-Bibliothek und aus dem Zensurkomitee hinzu. Der Abteilungsbestand wurde durch private Schenkungen beträchtlich erweitert, einerseits von Russen, die im Ausland tätig waren, andererseits von ausländischen Benutzern der Bibliothek. Im Jahre 1863 erhielt die Abteilung von dem Ehrenkorrespondenten Friedrich Lorenz Hoffmann aus Hamburg eines der ersten Handbücher zum Studium der russischen Sprache: Kurzes Wörterbuch, derer gemeinen und nothwendigsten Worte und Redens-Arten, so in der Russischen Sprache gewöhnlich seyn verfasset (o. O. 1713).

1.44 In den Jahresberichten der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek finden sich Einträge über besonders wertvolle Neuerwerbungen für die Abteilung. 1867 wurde der Erwerb der Ausgabe Corpus inscriptionum rhenanarum consilio et auctoritate Societatis Antiquariorum Rhenanae von Wilhelm Brambach (Elberfeld 1867) verzeichnet. Der Jahresbericht für 1901 gibt Auskunft über den Ankauf des Werkes Petri Gualterii Chabotii ...In Q. Horatii Flaccii Poema Expositio analytica (Basel 1589), der Jahresbericht für 1905 verzeichnet ein Lesebuch, Epistola, dialogi breves, oratiunculae, poematia, ex cariis utriusque linguae scriptoribus (o. O. 1577).

1.45 Die Abteilung gliederte sich ursprünglich in zwei Teile: den Bestand Alte Klassiker und den Bestand Sprachwissenschaft. Im Bestand Alte Klassiker wurden allgemeine Schriften zur griechischen und römischen Literatur gesammelt, einschließlich der Sekundärliteratur über antike Autoren. Der Bestand Sprachwissenschaft thielt Schriften zur allgemeinen und vergleichenden Sprachwissenschaft sowie linguistische Forschungen, Lehrbücher, Wörterbücher, Publikationen literarischer Denkmäler mit ihrer linguistischen Analyse, einige Enzyklopädien und Bibliographien zur Sprachwissenschaft, darüber hinaus eine beträchtliche Zahl von Schulprogrammen. Vereinzelt fanden sich auch Periodika, die jedoch zum größten Teil der Zeitschriftenabteilung übergeben wurden.

1.46 In der Abteilung Philologie arbeiteten zahlreiche Wissenschaftler: der Philologe und Hellenist Dmitrij P. Popov (s. o. 1.16), der seit 1850 den philologischen Lesesaal leitete und einen Katalog mit Werken antiker Autoren erstellte, der Historiker Ernst Friedrich Wilhelm von Bonnel (1816-1893), der Historiker und Hellenist Michail Semenovic Kutorga (1853-1904), seit 1899 Leiter der Philologie-Abteilung, der Philologe und Mitglied der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg Grigorij E. Zenger (1853-1919), der Pädagoge Reingard G. Kizerickij (1866-1920), der Literaturwissenschaftler Aleksandr A. Floridov (1862-1913). Schließlich ist der Historiker, Archäologe und Mitglied der Akademie der Wissenschaften Nikolaj D. Eulin (1863-1927) zu nennen, Autor der Monographie Imperatorskaja Publicnaja biblioteka za 100 let [100 Jahre Kaiserliche Öffentliche Bibliothek].

1.47 Die Sammlung römischer und griechischer Klassiker entstand 1850, gleichzeitig mit der Gründung der Philologie-Abteilung, die ursprünglich Abteilung der alten Klassiker und Sprachwissenschaft hieß. Als Gründer dieser Sammlung gelten Nikolaj I. Gnedic (s. o. 1.12 ) und der Leiter der Philologie-Abteilung, Michail S. Kutorga (s. o. 1.46).

Abteilung Geschichte

1.48 Die Abteilung Geschichte ist eine der größten Sektionen der Bibliothek. Im Jahre 1850 belief sich ihr Bestand auf ca. 60.000 Titel und 1930 auf ca. 300.000 Titel. Im Verlauf der Bibliotheksgeschichte bis zur Oktoberrevolution 1917 überwogen in den Beständen geisteswissenschaftliche Schriften, insbesondere zur Geschichte und zu den Historischen Hilfswissenschaften. Die Literatur zur Geschichte war mit Drucken vertreten, die zu einem großen Teil aus der Bibliothek der Grafen Zauski in Warschau stammten (s. o. 1.3 -1.5). Weitere Schriften kamen aus erworbenen Privatsammlungen hinzu oder gelangten als Schenkung in die Bibliothek. Zur Bestandserweiterung der Geschichtsabteilung trug in bedeutendem Maße der weitgefaßte Geschichtsbegriff Olenins bei, aufgrund dessen auch Ausgaben zur Geographie, Statistik, Numismatik, Heraldik, Genealogie und Kirchengeschichte sowie zur antiken Literatur in die Bibliothek gelangten (s. o. 1.9 -1.10). 1857 wurde das Olenin-System von den Bibliothekaren durch die Bereiche Ethnographie, Mythologie und Epigraphik ergänzt. Die Abteilung Geschichte leiteten zahlreiche Repräsentanten der russischen Kultur, darunter Boris A. [Bernhard] Dorn (1805-1881), Viktor E. Hehn (1813-1890), Moritz Konrad Posselt (s. o. 1.26) sowie von 1873 bis 1906 der Historiker, Ökonom und Bibliograph Pavel A. Sokolovskij (1847-1906).

Abteilung Theologie

1.49 Der Bestand der ehemaligen Theologie-Abteilung (seit der Oktoberrevolution der Kultabteilung) bildet einen der größten Bereiche des fremdsprachigen Bestandes der Bibliothek. Seinen Grundstock machten ebenfalls Werke aus der Zauski-Bibliothek aus (s. o. 1.3). In der Folgezeit wurde der Bestand aus denselben Erwerbsquellen ergänzt wie andere Abteilungen. Eine beträchtliche Bestandsvermehrung erfolgte durch die Auflösung der Bibliothek der Polozker Jesuitenakademie (s. o. 1.16), durch Bestände der Warschauer Öffentlichen Bibliothek und der Warschauer Gesellschaft der Wissenschaftsfreunde [Biblioteka Warszawskiego Towarzystwa Przyjació Nauk]. In der zweiten Hälfte des 19. Jhs wuchs der Bestand durch zahlreiche Schenkungen von Privatpersonen und verschiedenen Einrichtungen und Gesellschaften. 1857 erhielt die Bibliothek von dem Ehrenkorrespondenten der Bibliothek Friedrich Lorenz Hoffmann aus Hamburg, einem Bibliophilen und Privatgelehrten, die Rara-Ausgabe von Paulus Melissus Schede, Die Psalmen Davids in teutsche Gesangreime gebracht (Heidelberg: Michael Schirat 1572).

1.50 Außerdem wurde der Bestand durch Ausstellungstätigkeiten ergänzt, z. B. durch die 1856 an der Bibliothek veranstaltete Bibelausstellung, für deren Organisation eine besondere Kommission zuständig war. Dieser Kommission gehörten der Leiter der Theologie-Abteilung Eduard von Muralt (1808-1895) an, der Leiter der Abteilungen für Philosophie, Inkunabeln, Aldinen und Elzeviere, Rudolf Karl Minzloff (s. o. 1.25), der Sanskritist Kaetan A. Klassovic (1815-1883) und der Leiter der Geschichtsabteilung, Boris A. Dorn (s. o. 1.48 ). Insgesamt wurden ca. 300 Bibelausgaben ausgestellt. Die Bibelsammlung wurde nach Sprachen in zehn Bereiche unterteilt. Der Bereich Germanische Sprachen ist mit Bibeln in gotischer, hochdeutscher, niederdeutscher, niederländischer, isländischer, dänischer, schwedischer und englischer Sprache vertreten.

1.51 An der Spitze der Theologie-Abteilung standen namhafte Wissenschaftler und Repräsentanten des kulturellen Lebens wie Eduard von Muralt und Boris A. Dorn. Gegen Ende des 19. Jhs und zu Anfang des 20. Jhs leiteten diese Abteilung Ernst L. Radlov (s. o. 1.34), der Hellenist und Byzantinist Afanasij Ivanovic Papadopulo-Keramevs (1856-1912), der Literaturwissenschaftler Dmitrij I. Abramovic (1873-1955) und der Doktor der Theologie Nikolaj T. Cvetkov (1885-1935), Direktor bis zur Auflösung der Abteilung im Jahre 1929. Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde auf der Basis der Theologie-Abteilung die Abteilung Antireligiöse Literatur gebildet. Neben dem Bestand der ehemaligen Theologie-Abteilung thält diese Sektion auch Schriften aus der St. Petersburger Geistlichen Akademie (s. o. 1.36), aus dem Geistlichen Seminar sowie aus Privatbibliotheken.

Abteilung Philosophie und Pädagogik

1.52 Ursprünglich umfaßte diese Abteilung nur philosophische Werke, darunter Nachschlagewerke, Lexika, bibliographische Handbücher und Lehrwerke sowie Periodika. Zwischen 1860 und 1880 fand neben der Bestandserweiterung eine thematische Abgrenzung zwischen den philosophischen und theologischen Abteilungen statt, da viele Werke fachübergreifenden Charakter besaßen. Als Ergebnis dieser thematischen Zuordnungen gelangten Werke zur Pädagogik in die Philosophie-Abteilung. Gegen Ende der Aufteilung wies der Bestand drei große Bereiche auf: Philosophie, Pädagogik und Okkultismus.

1.53 Unabhängig von der traditionellen Erwerbungspolitik gelangte in der Mitte des 19. Jhs die Schwarzkunstbibliothek von Michail J. Viel'gorskij als Besonderheit in die Abteilung (s. u. 2.103 -2.105). Am Anfang des 20. Jhs wurden von der Rossika-Abteilung 1000 Werke aus der Bibliothek von Aleksandr N. Aksakov (1832-1903) zum Thema Spiritismus übergeben, die nicht nur in europäischen Sprachen, sondern auch in Russisch verfaßt waren (s. u. 2.106 ). Zahlreiche Nachschlagewerke, Handbücher und Lexika wurden in den dreißiger Jahren des 20. Jhs der Auskunftsabteilung und die Periodika der Zeitschriftenabteilung übergeben.

1.54 Zahlreiche Wissenschaftler und Kulturschaffende waren in der Philosophie-Abteilung tätig. Lange leitete sie Rudolf Karl Minzloff (s. o. 1.25 ), Bibliograph, Pädagoge und Übersetzer. Minzloff hatte an der Königsberger Universität promoviert, war preußischer Staatsangehöriger, übersiedelte nach Rußland, beherrschte mehrere europäische Sprachen und unterrichtete zunächst an Schulen und Lyzeen und auch privat in St. Petersburg. Im Jahre 1847 trat Minzloff seinen Dienst in der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek an und wurde bald Leiter der Philosophie-Abteilung, die er 35 Jahre leitete. Er hatte maßgeblichen Anteil am Aufbau der berühmten Rossika-Sammlung, an der Inkunabel-, Aldinen- und Elzevier-Abteilung sowie an der Erstellung verschiedener Kataloge. Genannt sei auch Karl Ignat Klevesal (1822-1876), der nach Absolvierung der historisch-philosophischen Fakultät der Universität Dorpat als Pädagoge in Perm' und St. Petersburg tätig war. Von 1853 bis 1869 leitete er die Abteilung Philosophie und Pädagogik. Gleichzeitig war er Experte für die Erwerbungspolitik der Bibliothek. Hermann Leopold Zunk (1818-1877) beteiligte sich an der Katalogisierung. Er erstellte den ersten Nominalkatalog der Abteilung. Von 1884 bis in die Mitte der neunziger Jahre des 19. Jhs arbeitete Ernst Leopold Radlov (s. o. 1.34), Philosoph, Literaturwissenschaftler und Übersetzer, in der Abteilung.

Abteilung fremdsprachige Schöne Literatur (Belles Lettres)

1.55 Die Abteilung fremdsprachige Schöne Literatur (Belletristik oder Belles Lettres) tstand 1850. Der Bucherwerb erfolgte zunächst eher zufällig, vorwiegend durch Schenkungen von Privatpersonen und verschiedenen in- und ausländischen Institutionen. Zahlreiche Ausgaben wurden auf Verordnung des Innenministeriums und des Zensurkomitees aus anderen Bibliotheken übernommen oder gelangten aufgrund der Bestimmungen der Pressehauptverwaltung in die Abteilung. Hier finden sich daher auch verbotene, beschlagnahmte oder bei verfolgten Personen konfiszierte Schriften. Nach der Revolution von 1917 wurde der Bestand durch Sammlungen verstaatlichter Bibliotheken vermehrt. Allerdings konnte bis heute keine systematische Bestandserweiterung erfolgen.

1.56 In der Abteilung arbeiteten in- und ausländische Wissenschaftler, Schriftsteller und Professoren. Erwähnt seien der Pädagoge und Kunsthistoriker Hermann Leopold Zunk (s. o. 1.54), der die Abteilung ab 1861 leitete und den Bestand katalogisierte, sowie der Historiker Ernst Friedrich Wilhelm von Bonnel (s. o. 1.46), der seit 1887 der Abteilung vorstand. Im 20. Jh leiteten die Abteilung der Pädagoge Konstantin Karlovic Guber (1864-1915), der Literaturwissenschaftler Aleksandr A. Floridov (s. o. 1.46) und der Literaturkritiker und Journalist Valerjan Adol'fovic Cudovskij (1882-1938). Darüber hinaus seien genannt der Geograph und Hydrograph Johann Christian Stukenberg (1788-1856), der Jurist, Literaturwissenschaftler und Experte für russische und westeuropäische Sprachen Robert Karl Ermerin (1829-1907), ferner Valerian Dominikovic Ivanovskij (Amtszeit 1854-1864), Aleksandr Alekseevic Dalmatov (Amtszeit 1885-1887), der Pädagoge und Philologe Richard Osipovic Lange (1858-1902) sowie Nikolaj Ricardovic Maak (1863-1921).

Abteilung IV

1.57 Die Abteilung IV tstand im Oktober 1919 als Arbeitsbibliothek des von Aleksej Maksimovic Gorkij gegründeten Verlags Vsemirnaja literatura [Weltliteratur]. Ihre Aufgabe bestand darin, den Lesern klassische und zeitgenössische Literatur in europäischen Sprachen zur Verfügung zu stellen. Der Bestand umfaßte verschiedenartige Nachschlagewerke, russische und ausländische Enzyklopädien, Bibliographien und Lexika, ausländische Schöne Literatur, illustrierte Ausgaben, Alben, Zeitungen und Zeitschriften. Bis zum Jahr 1920 hatte die Bibliothek einen eigenen Etat und bestellte nötige Literatur im Ausland. In der Folgezeit wurde neue Literatur durch die Erwerbungsabteilung der Staatlichen Öffentlichen Bibliothek bestellt. 1925 wurde die Bibliothek des Verlags Vsemirnaja literatura in die Staatliche Öffentliche Bibliothek als Abteilung inkorporiert. Im Jahre 1950 wurde die Abteilung IV aufgelöst. Der Hauptteil der westeuropäischen Literatur des 18. und 19. Jhs wurde in den fremdsprachigen Hauptbestand überführt und ist dort separat aufgestellt.

Abteilung Kunst und Technologie

1.58 Die Abteilung wurde entsprechend der Klassifikation von Aleksej N. Olenin geschaffen (s. o. 1.9 -1.10) und umfaßte Literatur zur Kunst (Musik, Malerei, Baukunst und Theater) und Technologie (Gewerbe im weitesten Sinn, Forstwirtschaft, Landwirtschaft, Hauswirtschaft, Jagd, Hüttenwesen, Bergbau, Chemie u. a.). Zum ersten Leiter dieser Abteilung wurde Vasilij I. Sobol'šcikov (s. o. 1.23) ernannt. Er ordnete die Abteilung und beschrieb über 50.000 Lithographien, Kupferstiche und Holzschnitte. Aus diesen Beschreibungen tstand ein Katalog in zehn Bänden. Darüber hinaus war er verantwortlich für den Alphabetischen Porträt-Katalog russischer und ausländischer Personen und organisierte verschiedene Graphik-Ausstellungen.

1.59 Seit 1872 leitete Vladimir V. Stasov (s. o. 1.23) die Abteilung. Von 1856 bis 1872 war er in dieser Abteilung ehrenamtlich tätig gewesen. Stasov unterstützte Sobol'šcikov bei der Ordnung der graphischen Sammlung und organisierte verschiedene Ausstellungen. Von ihm wurde die Sammlung von Porträts Peters des Großen eingerichtet. Stasov oblagen verschiedene Arbeitsbereiche wie der Bucherwerb, die Inventarisierung und die Leserbetreuung. Im Laufe seiner Tätigkeit wuchs der Bestand um ein Drittel und nahm international eine beachtliche Stellung ein. In der Abteilung Kunst und Technologie wurden zunächst auch russische Schriften, Alben, Noten, Plakate, Stiche und Nachschlagewerke gesammelt, die in der Folgezeit anderen Abteilungen übergeben wurden. Nach der Reorganisation der Bibliothek wurde diese Abteilung teilweise dem fremdsprachigen Bestand zugeordnet.

Abteilung Naturwissenschaften und Medizin

1.60 Die Abteilung Naturwissenschaften ist einer der wichtigsten Bereiche des historischen fremdsprachigen Bestandes. Zum Eröffnungstag der Bibliothek belief sich der Bestand auf 8600 Titel, im Jahre 1870 auf ca. 55.000. Zur Zeit umfaßt der historische Gesamtbestand ca. 96.000 Titel. Die Abteilung gliedert sich in folgende Fachgebiete: Naturkunde, Naturgeschichte, Botanik, Biologie, Zoologie, Geologie, Paläontologie, Medizin, Chemie, Astronomie, Militärwesen, Veterinärwesen, Mathematik, Mechanik und Physik. Die Abteilung erhielt ca. 22 Prozent vom Gesamtetat für den Bucherwerb, andere Abteilungen (außer der Geschichtsabteilung) hingegen nur ca. 6 Prozent.

1.61 Der Bestand wuchs durch den Erwerb von Privatbibliotheken namhafter Wissenschaftler und Bibliophiler. 1851 erhielt die Abteilung die Bibliothek des Arztes Ignatij A. Ru (1784-1847) mit 2200 Bdn, vorwiegend zur Anatomie und Chirurgie. 1863 gelangten 234 Werke und 690 Broschüren aus der Bibliothek des Ehrenmitgliedes Platon J. Hamalej (1766-1822), in die Abteilung. 1874 schenkten die Töchter des kaiserlichen Leibarztes Ivan I. Person (1797-1867) der Bibliothek 3000 Bde zur Medizin.

1.62 Zum ersten Leiter der naturwissenschaftlichen Abteilung wurde Carl Heinrich Ludwig Becker (s. o. 1.25) ernannt, der von 1849 bis 1873 in der Bibliothek tätig war. Er absolvierte sein Studium an der Universität Göttingen, besaß zudem Diplome der Universitäten Dorpat und Halle und unterrichtete deutsche Sprache und Literatur. Bibliotheksdirektor Modest A. Korf (s. o. 1.19) schätzte seine Tätigkeit als Wissenschaftler und Leiter sehr hoch. Als Becker 1873 in Pension ging, wurde Friedrich Theodor Köppen (s. o. 1.26) zu seinem Nachfolger ernannt. Dieser wirkte in der Bibliothek von 1872 bis 1908. In den 25 Jahren seiner Leitung betrieb Köppen eine intensive Anschaffungspolitik, vor allem im Hinblick auf neuere wissenschaftliche Literatur.

Abteilung Polygraphie

1.63 Im Vergleich zu anderen Abteilungen des ausländischen Bestandes ist für die Polygraphie-Abteilung ihr Universalcharakter kennzeichnend. Sie erhielt im Jahre 1850 diese Bezeichnung unter der Annahme, daß die Abteilung Literatur universellen Inhalts vereinigen und zudem Schriften erfassen solle, die gemäß der damaligen Klassifikation keinem Fachbereich zugeordnet wurden. Die Abteilung umfaßte ursprünglich folgende Sachgruppen: Enzyklopädien und Nachschlagewerke zu den verschiedenen Wissenszweigen, Sammelbände allgemeinen Inhalts, Gesamtausgaben der Werke einzelner Autoren, darüber hinaus kritische Ausgaben literarischer Texte sowie Schriften zur Wissenschafts- und Literaturgeschichte, wissenschaftliche Veröffentlichungen von Akademien, Universitäten, Instituten, Gesellschaften und Vereinen, ferner Zeitungen, Zeitschriften, Jahrbücher und andere Periodika allgemeinen Charakters.

1.64 Der Abteilungsbestand wurde traditionell durch Kauf, Schriftentausch, Spenden und Schenkungen ergänzt. Von den dreißiger bis in die siebziger Jahre des 19. Jhs wurden ganze Bibliotheken und Sammlungen angeschafft, die jedoch aufgeteilt und nach Wissenszweigen den entsprechenden Abteilungen zugeführt wurden. Unter den Erwerbungen dieser Zeit ragt die im Jahre 1836 erhaltene Privatbibliothek des Grafen Petr K. Suchtelen (s. o. 1.14) heraus, aus der die Abteilung sowohl Enzyklopädien und Miszellensammlungen als auch Werke zur Literaturwissenschaft und Bibliographien erhielt. Die englischen und amerikanischen Autoren sind hauptsächlich in der Leipziger Tauchnitz-Reihe vertreten, die damals von der Bibliothek bezogen wurde.

1.65 Die Thematik der Abteilung ist eng mit den Themenkreisen anderer Abteilungen verbunden. Deshalb wurde 1865 ein Spezialkomitee für die Abgrenzung der einzelnen Abteilungen gegründet, wonach Werke und Broschüren aus der Polygraphie-Abteilung in die Abteilungen Philologie und Schöne Literatur übergeben wurden. Seitdem veränderte sich der Inhalt der Abteilung stark. Zahlreiche Werke zum Bibliothekswesen und zur Bibliotheksgeschichte wurden 1930 der Abteilung Bibliothekswissenschaft übergeben. Ein weiterer umfangreicher Bestand ging in diesen Jahren in die Auskunftsabteilung ein, darunter Enzyklopädien, Nachschlagewerke, Lexika, Bibliographien, Biographien, Kataloge und Verzeichnisse. Grundlegende Veränderungen vollzogen sich auch durch Aussonderung der meisten Periodika des 17. bis 19. Jhs, die der Abteilung Fremdsprachige Zeitschriften und Zeitungen überstellt wurden: darunter fielen Zeitschriften, Zeitungen und Veröffentlichungen von Akademien, Universitäten und anderen Instituten. Dennoch verblieben einige seltene Zeitungen und Zeitschriften allgemeinen Charakters in dieser Abteilung.

1.66 Unter den bekannten Persönlichkeiten, die in der Abteilung tätig waren, leistete Christoph[or] Friedrich Walther einen besonderen Beitrag (s. o. 1.25). Als Sohn eines Kaufmanns, Absolvent der Leipziger Universität und Doktor der Philosophie lebte er von 1834 an in Rußland und erhielt 1858 das russische Bürgerrecht. 1881 wurde er in den erblichen Adelsstand erhoben. Walther unterrichtete Latein, Griechisch und Deutsch an der deutschen Hauptschule zu St. Petri und an anderen Hochschulen von St. Petersburg. Im Jahre 1848 wurde er in der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek angestellt und 1850 zum Leiter der Abteilung Polygraphie ernannt, wo er bis 1885 insgesamt 35 Jahre arbeitete. Unter seiner Verwaltung wurden richtungsweisende Änderungen bei der Inventarisierung und Katalogisierung vorgenommen sowie grundlegende Verwaltungsmaßnahmen durchgeführt.

1.67 Die Abteilung selbst wurde beträchtlich durch wissenschaftliche Monographien und Periodika ergänzt. Walther lernte 1861 während einer Auslandsreise die Bibliotheken von Antwerpen, Gent und Brügge kennen. Von Mitarbeitern dieser Bibliotheken bekam er eine Reihe von bibliographisch interessanten Katalogen, die damals sogar im Buchhandel nicht erhältlich waren. Diese Kataloge mit den Autographen der Bibliothekare und Walthers werden in der Abteilung aufbewahrt. Da die Bibliothek Literatur zur Hochschulgeschichte sammelte, erwarb Walther mehrere Hochschulprogramme aus europäischen Ländern. Sein besonderes Verdienst besteht jedoch in der Ausarbeitung eines Schemas für den Systematischen Katalog der Abteilung. Dieses Schema wurde von der Bibliotheksverwaltung übernommen und existierte bis zum Anfang des 20. Jhs. Von 1885 bis 1909 stand an der Spitze der Abteilung Innokentij M. Boldakov (1846-1918), Literaturhistoriker, Übersetzer und Journalist. Ihm folgte Karl R. Berent (1862-1930), Philologe, Altertumskundler und Übersetzer, der die Abteilung von 1909 bis 1929 leitete.

Rossika-Abteilung

1.68 Die Rossika-Abteilung wurde wie die anderen Bestandsabteilungen 1850 gegründet, mit dem Auftrag, alles zu sammeln, was jemals in fremden Sprachen über Rußland geschrieben wurde. Für diese Idee hatte sich bereits Aleksej N. Olenin (s. o. 1.9) ausgesprochen. Realisiert wurde sie hingegen erst von Modest A. Korf (s. o. 1.19). Korfs Überzeugung nach konnte die Kaiserliche Öffentliche Bibliothek nur dann die Bedeutung einer Nationalbibliothek erlangen, wenn sie auch konsequent alle Werke über Rußland in unterschiedlichen Sprachen sammelte. Entsprechend wurden unter der Leitung Vasilij I. Sobol'šcikovs (s. o. 1.23) sowohl alle im Ausland erschienenen Drucke über Rußland als auch die innerhalb Rußlands gedruckten fremdsprachigen Werke, Zeitschriften, Zeitungen sowie Übersetzungen russischer Werke aus dem Hauptbestand ausgegliedert und der Abteilung zugeführt.

1.69 Die Ergänzung der Rossika-Abteilung wurde zum Schwerpunkt der Bibliothekstätigkeit. An dieser Aktion nahmen nicht nur Bibliotheksmitarbeiter sowie Ehrenmitglieder und Ehrenkorrespondenten teil, sondern auch Kommissionäre, in- und ausländische Buchhändler, Gelehrte, Literaturwissenschaftler sowie Bibliographen Rußlands und ausländischer Staaten. Die Bibliothek stand mit zahlreichen Bibliotheken, Einrichtungen und Wissenschaftlern in regem Kontakt. Im Jahre 1851 wurde der Entwurf eines vollständigen Katalogs fremdsprachiger Schriften über Rußland vorbereitet und an russische Wissenschaftler sowie an Universitäten und wissenschaftliche Gesellschaften geschickt. Zudem wurden Bestellisten fehlender Titel an führende Buchhändler in Europa und Amerika versandt.

1.70 Auf diese Weise konnte die Bibliothek Lücken schließen. Im Jahre 1852 gelangten weitere Drucke aus der Eremitage-Bibliothek in die Rossika-Sammlung. In den Jahren 1857 bis 1860 übergab die Königliche Bibliothek zu Dresden eine große Sammlung von auf Rußland bezogenen Broschüren und Flugblättern des 16. und 17. Jhs. Auch gelangten seltene Schriften als Geschenke von russischen und ausländischen Wissenschaftlern in die Abteilung. Hervorgehoben seien die Schenkungen von Grigorij N. Gennadi (1826-1880), Pavel M. Stroev (1796-1877), Sergej Dmitrievic Poltorackij (1803-1884), Sergej A. Sobolevskij (1803-1870) sowie von der gräflichen Familie Voroncov. Auf allen großen Auktionen wurden fehlende Schriften erworben, um den Bestand zu vervollständigen. Modest A. Korf selbst kaufte während seiner Auslandsreisen immer wieder fremdsprachige Werke über Rußland. Der Bestand wuchs um ca. 1200 bis 1800 Bde jährlich. Im Jahre 1860 umfaßte er bereits ca. 30.000 Titel. Im selben Jahr wurden im lithographischen Verfahren 100 Exemplare des Alphabetischen Katalogs der Rossika-Sammlung hergestellt und zur Überprüfung an Wissenschaftler versandt. Die revidierte Fassung erschien 1873 in zwei Bänden.

1.71 In der Abteilung wirkten wichtige Repräsentanten der russischen Kultur. Zum ersten Leiter wurde Vasilij I. Sobol'šcikov ernannt. Er widmete sich seit 1849 dem Aufbau der Sammlung fremdsprachiger Werke über Rußland, stellte den Alphabetischen und den Inventarkatalog zusammen und begann zudem, den Systematischen Katalog zu erarbeiten, den später der Musik- und Kunsthistoriker Vladimir V. Stasov (s. o. 1.23 ) vollendete. Einige Jahre wurde die Abteilung von Jegor Berckholz geleitet (s. o. 1.26), der ebenfalls am Alphabetischen und am Systematischen Katalog mitwirkte. Sein Nachfolger, Karl F. Fetterlein (1828-1902), war in der Bibliothek 40 Jahre tätig. Er bereitete den zweibändigen gedruckten Katalog vor.

1.72 Erwerbungen für die Rossika-Abteilung erfolgten bis zum Jahr 1930. Die ständigen Bemühungen, diese Sammlung weiter zu ergänzen, haben schließlich einen Bestand von 150.000 Titeln (Stand 1930) ergeben, darunter zahlreiche Rara und Unikate.

Rara-Abteilung

1.73 Die Rara-Abteilung entstand 1946. Sie setzt sich aus verschiedenen Sammlungen seltener Drucke zusammen, die bereits im 19. Jh aus dem Gesamtbestand ausgegliedert worden waren. Dazu zählen kirchenslawische Drucke in kyrillischer und glagolitischer Schrift (7000 Bde), eine Drucksammlung in moderner russischer Schrift aus der Regierungszeit Peters des Großen (730 Bde), eine Inkunabelsammlung (über 6000 Bde) sowie eine Sammlung von Aldinen (9000 Bde) und Elzevieren (5000 Bde). Als Grundstein der Sammlung kirchenslawischer Schriften gilt die 115-bändige Sammlung des Senators Petr K. Frolov (1775-1839), die die Bibliothek 1817 erwarb. Im Jahre 1852 kamen 558 ältere Drucke aus der Sammlung von Michail P. Pogodin (1800-1875) sowie Drucke aus anderen Privatsammlungen hinzu.

1.74 Nach der Oktoberrevolution wurde der Abteilungsbestand durch Drucke aus den verstaatlichten Bibliotheken und staatlichen Fonds erweitert. So erhielt die Abteilung 1919 die Bibliothek der Petrograder Geistlichen Akademie mit 4823 Bdn kirchenslawischer Schriften. Später wurden der Abteilung weitere Drucksammlungen (s. u. 2.258ff.) übergeben, wie die Privatbibliothek von Voltaire (6800 Bde), eine Sammlung mit Drucken der Pariser Kommune (3000 Bde), die Bibliothek des Adeligen Landkadetten-Korps [Biblioteka Suchoputnogo Šljachetnogo Korpusa] (6800 Bde), die Sammlung westeuropäischer Schriften des 16. Jhs (16.800 Bde) und die Sammlung historisch bemerkenswerter Exemplare (4000 Bde). Darüber hinaus wurde ein spezieller Bestand zur Buchgeschichte sowie zum Buchdruck gebildet (12.000 Bde). In der Folgezeit wurden die Abteilungsbestände durch Ankauf und Schriftentausch vermehrt.

1.75 Die Inkunabel-Abteilung stellt sowohl in Rußland als auch in der ehemaligen UdSSR eine der größten Sammlungen ihrer Art dar und enthält über 5000 Titel in mehr als 6000 Bdn. Die Bibliothek erhielt 1836 einen Teil der Sammlung des russischen Gesandten in Schweden Petr K. Graf Suchtelen (s. o. 1.14 ), darunter 957 Inkunabeln, von denen viele prachtvolle Einbände aufweisen. 1858 erstand der Frankfurter Kommissionär Joseph Baer (1804-1861) auf einer Auktion ein Exemplar der 42-zeiligen Bibel von Johann Gutenberg zu einem beachtlichen Preis von 1355 Talern. 1843 begann man mit der Ausgliederung der Inkunabeln aus dem fremdsprachigen Bestand. Diese Drucke wurden in dem speziellen gotischen Saal, dem sogenannten Faustkabinett, untergebracht, das von seiner Architektur und Einrichtung her an eine westeuropäische Klosterbibliothek des 15. Jhs erinnert (s. o. 1.25).

Fremdsprachiger Zeitschriftenbestand

1.76 In diesem Periodikabestand, der innerhalb des fremdsprachigen Gesamtbestandes eine eigenständige Abteilung bildet, werden Zeitschriften und Reihen in vielen europäischen Sprachen und aus nahezu allen Wissensbereichen aufbewahrt. Darunter finden sich wissenschaftliche Beiträge, Nachrichten, Jahresberichte, Veröffentlichungen von Akademien, gelehrten Gesellschaften und Vereinen. Zeitschriften aus St. Petersburg und dem Baltikum nehmen traditionell einen großen Raum ein. Im Register für die Jahre 1811 bis 1815 finden sich als regelmäßig erworbene deutschsprachige Zeitschriften z. B. Ruthenia oder Deutsche Monatsschrift in Rußland (Riga 1807-1811), Der Patriot: Eine historisch-politische Zeitschrift (St. Petersburg 1812-1815), Der russische Invalide (St. Petersburg 1813-1821), Rigischer Anzeiger (Riga 1761-1852), Rigische Stadtblätter (Riga 1810-1817), Berlinische Nachrichten (Berlin 1814-1871), Göttingischer Anzeiger (Göttingen 1739-1943) oder Österreichischer Beobachter (Wien 1813-1832, 1844). Die Periodika wurden sowohl durch das Zensurkomitee als auch von Schuldirektoren Kurlands erworben.

1.77 Die fremdsprachigen Periodika wurden nach Wissensgebieten in die verschiedenen Abteilungen eingeordnet und innerhalb derer nach Sprache, Alphabet und Format aufgestellt. Sie wurden überwiegend mit bibliothekseigenen Mitteln oder mit staatlicher Finanzierung erworben. Im Bibliotheksarchiv befinden sich Katalogbände der Petersburger Buchhändler M. O. Wolf, Jakov Alekseevic Isakov und A. Münx, über die ausländische Zeitschriften erworben wurden. Darüber hinaus erhielt die Bibliothek Periodika durch ausländische Verlagshäuser und Buchhändler wie H. W. Schmidt (Halle), A. Asher (Berlin), Johann Jakob Weber (Leipzig), Joseph Baer (Frankfurt a. M.) und L. H. Geisner (Brüssel). Im Jahre 1864 erhielt die Bibliothek vom Leipziger Buchhändler Leopold Voss zweimal monatlich 68 Zeitschriftentitel, davon 27 deutsche. In den sechziger Jahren des 19. Jhs vervollständigte die Bibliothek ihre Periodika-Sammlung durch Schriftentausch mit ausländischen Gesellschaften, Vereinen und Institutionen. Der Jahresbericht für das Jahr 1858 unter dem Bibliotheksdirektor Modest A. Korf (s. o. 1.19) vermerkt, daß sich unter 243 fremdsprachigen Zeitschriftentiteln 120 deutsche befanden, darunter Zeitschrift für historische Theologie, Rheinisches Museum für Philologie, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Zeitschrift für Bauwesen oder Polytechnisches Centralblatt.

1.78 Aufgrund des wachsenden Interesses der Benutzer an laufenden Periodika wurde 1863 ein spezieller Zeitschriften-Lesesaal eröffnet. Im Jahre 1863 tfielen von 213 Titeln fremdsprachiger Periodika 125 Titel auf deutsche Zeitschriften, bereits ein Jahr später von 250 Titeln 138 Titel. Der Oberbibliothekar Christoph[or] Friedrich Walther (s. o. 1.66), ein Absolvent der Leipziger Universität, wurde mit der Aufsicht über den Zeitschriften-Lesesaal und der Anlage des Alphabetischen Katalogs beauftragt. Unter den 337 Zeitschriftentiteln, die die Bibliothek im Jahre 1869 laut Verzeichnis fremdsprachiger Periodika bezog, befanden sich 189 deutsche Titel.

Zeitungs-Abteilung

1.79 Die Sonderabteilung für Zeitungen wurde 1950 aufgebaut. Sie umfaßt in erster Linie Zeitungen in russischer Sprache. Der fremdsprachige Bestand wurde in den Jahren 1955 bis 1957 hinzugefügt; er umfaßt jedoch nur einen Teil der fremdsprachigen Zeitungen, die traditionell in den Fachabteilungen aufbewahrt wurden. Aus verschiedenen Gründen verblieben zahlreiche Zeitungen an den ursprünglichen Aufstellungsorten. Die Sammlung fremdsprachiger Zeitungen ist eine der umfangreichsten Sammlungen ihrer Art in der Russischen Föderation. Sie enthält Zeitungen aus 76 Ländern in allen europäischen Sprachen in lateinischer oder in kyrillischer Schrift.

1.80 Die Kaiserliche Öffentliche Bibliothek erwarb Zeitungen durch Subskription, Schenkung und internationalen Schriftentausch. Zudem unterstützte die Bibliothek geschäftliche Verbindungen mit den großen Buchhandelsfirmen Europas. Bei einem Gesamtbestand von mehr als 2000 fremdsprachigen Zeitungen wurden 310 als Germanica identifiziert. Diese Zahl schließt Sonderbeilagen ein, die einen eigenen Titel haben, so die Handels- und Börsenzeitung (1878-1881) als Beilage zum St. Petersburger Herold oder die Bayerische Handelszeitung (München 1889-1891) als Beilage zur Münchener Allgemeinen Zeitung.

1.81 Die Zeitungen werden in den verschiedensten Abteilungen aufbewahrt. In einer Abteilung stehen beispielsweise Zeitungen gemäß ihrer Signatur, aber unabhängig von der Sprache. In der Abteilung Polygraphie sind Zeitungen auf einzelne Unterabteilungen verteilt, in der Abteilung Fremdsprachige Zeitschriften sind sie in die allgemeinen Reihen eingeordnet. In der Rossika-Abteilung sind Zeitungen in einem Saal zusammen aufgestellt. Die im fremdsprachigen Bestand aufbewahrten Zeitungen ermöglichen einen Einblick in die Entwicklung der ersten deutschen Zeitungen. Durch unterschiedliche Aufbewahrung und verstreute Aufstellung im Gesamtbestand ist eine systematische Beschreibung nach Fächern erschwert.

Graphik-Abteilung

1.82 Diese Abteilung ging 1951 aus der früheren Abteilung Kunst und Technologie hervor. Am 1. Januar 1997 umfaßte der Bestand 1.068.177 bibliographische Einheiten in- und ausländischer Drucke (zum historischen Bestand s. u. 2.337). Neben Stichen und Lithographien werden hier Plakate, Reproduktionen, Photographien, Postkarten, Exlibris, Ausstellungskataloge (seit 1957) und Museumskataloge (seit 1970) aufbewahrt. Den Grundbestand bilden ausländische Stiche, die mit den Sammlungen der Grafen Zauski (s. o. 1.3 ) in die Bibliothek kamen (8 Kisten mit Stichen und Karten). Im Jahre 1810 umfaßte der Bestand 24.574 Exemplare. In der Folgezeit wurde er durch Kauf, Schenkungen von Privatpersonen und Institutionen sowie durch Pflichtabgaben inländischer Stiche und Lithographien ständig erweitert.

1.83 Mitte der vierziger Jahre des 19. Jhs umfaßte der Bestand 50.000 Blätter. Bibliotheksdirektor Aleksej Nikolaevic Olenin (s. o. 1.9-1.10), Präsident der Akademie der Künste, war nicht nur um die Bestandserweiterung bemüht, sondern auch um die Beschreibung und Systematisierung der Stiche. Zur Bewältigung dieser Aufgabe wurde der russische Fabeldichter Ivan Andreevic Krylov (s. o. 1.12) beschäftigt. In den Jahren 1843 bis 1849 setzte Vasilij I. Sobol'šcikov (s. o. 1.23) dessen Arbeit fort. Er ordnete und systematisierte die Stiche und stellte die Hauptsammlung zusammen.

1.84 Die Hauptsammlung enthält 15.246 Stiche des 15. Jhs bis zum Anfang des 19. Jhs. Dabei handelt es sich vorwiegend um ausländische Stiche, die wie im 19. Jh nach nationalen Schulen (deutsche, holländische, französische, italienische und russische) aufgestellt sind, innerhalb der Schulen in chronologischer Folge. In der deutschen Sammlung (s. u. 2.337-2.351) finden sich Holzschnitte und Kupferstiche des 15. und 16. Jhs von Albrecht Dürer, Hans Burgkmair, Hans Sebald Beham sowie Heinrich Aldegrever. Zusätzlich zu den nationalen Schulen ist die Hauptsammlung unterteilt in Porträts, Ansichten einzelner Länder und Städte (alphabetisch nach porträtierten Personen und Orten) sowie in thematische Stiche.

1.85 Eine Sondergruppe bilden anonyme Stiche, die inhaltlich nach Themen wie Schlachten, Tiermalerei, Landschaft o. ä. erfaßt wurden. Die Stiche wurden auf Kartons geklebt, manchmal mehrere Exemplare auf ein Blatt. Seit den fünfziger Jahren des 19. Jhs wurde diese Sammlung nur in geringem Maß erweitert. Seit den siebziger Jahren des 19. Jhs wird die Hauptsammlung als geschlossene Sammlung geführt. Stiche, die nicht in die sogenannte Hauptsammlung eingeordnet wurden, bildeten in der Folgezeit eigene Sammlungen wie Porträts, Landschaften oder besondere Themen. Diese Abteilungen werden bis heute ergänzt. 1850 wurden die Stiche in die Abteilung Kunst und Technologie eingeordnet, deren Leiter Vasilij I. Sobol'šcikov (s. o. 1.23) war.

1.86 In den fünfziger Jahren des 19. Jhs konnte die Sammlung ausländischer Stiche und Alben durch Antiquariatskäufe in Rußland und im Ausland wesentlich erweitert werden. In Leipzig kaufte z. B. der Buchhändler und Verleger Rudolf Weigel (s. o. 1.33) Stiche für die Bibliothek. 1852 wurde dem ehemaligen Schauspieler der deutschen Theatertruppe zu St. Petersburg, Gustav Laddey (1796-1872), eine große Porträtsammlung abgekauft, als er nach Deutschland zurückkehrte. Dieser hatte zunächst Bildnisse historischer Persönlichkeiten als Anschauungsmaterial für seine Theaterrollen gekauft und später systematisch gesammelt. In einem Zeitraum von 40 Jahren sammelte Laddey 12.500 russische und ausländische Stiche.

1.87 Besondere Aufmerksamkeit galt dem Erwerb von Drucken mit russischer Thematik. 1852 wurden in Nürnberg frühe Stiche zur Geschichte Rußlands erworben. 1858 kaufte der Petersburger Lithograph Carl Beggrow (1799-1875) in Nürnberg 6 seltene Bildnisse Peters I. Während des Krimkriegs (1854-1856) wurden im Ausland ausländische Stiche und Lithographien über Kriegsereignisse erworben, darunter deutsche Volksbilderbogen. Immer wieder schenkten Einrichtungen und Privatpersonen der Bibliothek Stiche. So übergab im Jahre 1853 das Ehrenmitglied der Bibliothek Nikolaj I. Grec (1787-1867) 169 Stiche, die er im Jahre 1848 während einer Reise durch Europa gesammelt hatte. 1856 erhielt die Bibliothek als Geschenk ihres Ehrenkorrespondenten in Hamburg, Friedrich Lorenz Hoffmann, 334 Porträts namhafter Einwohner der Stadt Hamburg.

1.88 Gegen Ende der fünfziger Jahre des 19. Jhs begann die Bibliothek auf Vorschlag des Direktors Modest A. Korf (s. o. 1.19), photographische Materialien einschließlich Reproduktions-Alben von Museums- und Privatsammlungen zu erwerben. Einen großen Anteil an der Erwerbung und Bearbeitung ausländischer Stiche und Alben hatte Vladimir V. Stasov (s. o. 1.23), der seit 1872 die Abteilung Kunst und Technologie leitete. Unter Stasov wurde die Sammlung nicht nur durch Kauf, sondern auch durch Schenkungen erweitert, darunter Bildnisse Peters I. (Stiche und Lithographien) für die einzigartige Sammlung Galerie Peter des Großen. Besonders wertvolle Geschenke machte das Ehrenmitglied der Bibliothek Dmitrij Aleksandrovic Rovinskij (1824-1895), z. B. 1891 mit dem seltenen, in Prag bei Michael Peterle gedruckten und handkolorierten Holzschnitt aus dem 16. Jh, der den Fürsten Zachar Ivanovic Sugorskij und die Gesandtschaft des Zaren Ivan IV. Vasil'evic (des Schrecklichen) beim deutschen Kaiser Maximilian II. auf dem Regensburger Reichstag 1576 darstellt. Dieses Blatt erwarb Rovinskij in einem Museum in Wiesbaden im Tausch gegen seine wissenschaftlichen Schriften. 1897 erhielt die Bibliothek nach dem Testament von Rovinskij eine seiner Sammlungen, die Ausländischen Kupferstich-Porträts, die 40.200 Stiche vom 16. Jh bis zur ersten Hälfte des 19. Jhs umfaßte. Einen bedeutenden Teil bildeten dabei die Porträts aus der Sammlung des Arztes Aleksandr Ivanovic Gassing (1778-1844), die Rovinskij im Jahre 1884 gekauft hatte.

1.89 Nikolaj Dmitrievic Ceculin (1863-1927), der die Abteilung seit 1906 leitete, beschrieb von 1909 bis 1914 die Rovinskij-Sammlung. Den von ihm erstellten Katalogen, dem Katalog porträtierter Personen und dem Katalog der Stecher (s. u. 3.2), lagen weitere Katalogisierungsmaßnahmen ausländischer Porträts zugrunde. Ceculin besaß eine eigene Sammlung russischer und ausländischer Stiche, in der deutsche Stiche von Martin Schongauer, Albrecht Dürer und Lucas Cranach d. Ä. vertreten waren. 1927 wurde der Bibliothek ein Teil dieser Sammlung von seinen Erben geschenkt. Der restliche Teil (1846 Blätter, darunter 1562 westeuropäische Stiche) wurde im Jahre 1964 erworben.

1.90 In den Jahren von 1919 bis 1921 wurde der Bestand zunächst durch den Staatsfonds für Literatur erweitert und nach dem Zweiten Weltkrieg durch 51 Stiche des 15. und 16. Jhs aus Bibliotheken Königsbergs und durch 19 Stiche des 18. und 19. Jhs aus Bremer Bibliotheken (d. h. der Kunsthalle Bremen) ergänzt. In den Jahren von 1950 bis 1960 wurden Stiche antiquarisch in Buchhandlungen sowie von Privatpersonen gekauft. 1951 konnten Blätter aus der Sammlung des berühmten russischen Stechers Vladimir Vasil'evic Mate (1850-1917) erworben werden. 1970 wurde die Exlibris-Sammlung (16. bis 20. Jh) des Mitarbeiters der Bibliothek Vladimir Aleksandrovic Briliant (1883-1969) erworben (s. u. 2.352). Sie enthielt ausländische Exlibris, die in diesem Umfang in der Bibliothek noch nicht vorhanden waren.

Abteilung Musikdrucke und Tonträger

1.91 Seit Gründung der Bibliothek im Jahre 1795

wurden Musikalien gesammelt. Die Zauskische Sammlung (s. o. 1.3-1.4) umfaßte bereits ca. 200 Notendrucke. Seit 1811 besitzt die Russische Nationalbibliothek ein Pflichtexemplarrecht auf sämtliche in Rußland erschienene Druckschriften einschließlich Notendrucke. Darüber hinaus wurden die Musikbestände durch Ankauf, Schenkungen und Tausch erweitert.

1.92 Im Jahre 1859 erhielt die Bibliothek eine Sammlung von Notendrucken (Ende des 18. und Anfang des 19. Jhs) aus der Bibliothek der Eremitage, die dem Zarenhof von russischen und ausländischen Komponisten geschenkt worden waren. Unter den in der Regel wertvollen und seltenen Ausgaben befindet sich z. B. die von Franz Commer herausgegebene Collectio operum musicorum Batavorum saeculi XVI (Berlin: T. Trautwein; Mainz u. a. [1844-1861]).

1.93 Bereits 1858 hatte Vasilij Pavlovic Engelgardt (1826-1915) 17 in Leipzig gedruckte Romanzen von Michail Ivanovic Glinka mit französischem, deutschem und italienischem Text erworben. Die von Ludmila Ivanovna Šestakova (1816-1906) herausgegebenen Partituren der Opernouvertüren von Glinka wurden im selben Jahr angekauft. 1860 verkaufte Giovanni Giustiniani (1810-1866) der Bibliothek 40 Bde mit Opernpartituren französischer, deutscher und italienischer Komponisten, u. a. von Christoph Willibald Gluck, Étienne N. Méhul, Johann Anton André, André Ernst Modeste Grétry, Nicolo Isouard und Domenico Cimarosa. Die meisten galten bereits damals als Rara.

1.94 Im Jahre 1862 wurden in Rom bei dem Musikliebhaber Landsberg seltene Schriften und Notendrucke gekauft, hauptsächlich ausländische Drucke russischer Komponisten, Werke ausländischer Komponisten sowie musikwissenschaftliche Schriften.

1.95 Viele Lücken im Bestand der russischen und ausländischen Musikdrucke konnten durch Schenkungen geschlossen werden. Unter den Stiftern waren die Bibliothekare Afanasij Fedorovic Byckov (s. o. 1.20) und Vladimir V. Stasov (s. o. 1.23), ferner Musikliebhaber und russische Musikverleger wie Fedor Timofeevic Stellovskij (1826-1875), Vasilij Vasil'evic Bessel (1843-1907), Mitrofan Petrovic Beljaev (1836-ca. 1904) und Petr Ivanovic Jurgenson (1836-1904).

1.96 Nachdem die Bibliothek 1850 in Abteilungen untergliedert worden war, gelangten die Musikdrucke in die Abteilung Schöne Künste und Technologie, die zunächst von Vasilij I. Sobol'šcikov (s. o. 1.23), dann von Vladimir V. Stasov (s. o. 1.23) geleitet wurde. Stasov erarbeitete Richtlinien für den Erwerb, die Katalogisierung und Benutzung der Musikdrucke. Der Bestand wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jhs wesentlich vermehrt. Stasovs Nachfolger wurde der Musikhistoriker und -schriftsteller Liverij A. Sakketti (1852-1916).

1.97 In den Jahren nach der Oktoberrevolution von 1917 wurde der Notenbestand aus der Abteilung Schöne Künste und Technologie ausgegliedert. Diese Umstrukturierung wurde von dem Musikwissenschaftler Andrej Nikolaevic Saitov (1897-1942) durchgeführt. Eine umfangreiche Notensammlung (1600 russische und fremdsprachige Titel) erhielt die Bibliothek 1925 mit Unterstützung des Staatsfonds aus der Privatbibliothek der Fürsten Nikolaj Borisovic Jusupov d. Ä. (1750-1831) und Jusupov d. J. (1827-1891), darunter vorzugsweise Ausgaben ausländischer Komponisten aus der zweiten Hälfte des 18. Jhs und dem ersten Viertel des 19. Jhs (Opernpartituren, gedruckte Stimmbücher aus Opern und Instrumentalmusik sowie Sologesänge).

1.98 Im Jahre 1931 wurde in der Nationalbibliothek eine selbständige Notenabteilung gegründet, deren Bestände durch Tausch mit ausländischen Institutionen vermehrt wurden. 1934 erhielt die Firma Universale Edition in Wien Dubletten von Notendrucken und die Bibliothek erhielt dafür im Tausch 125 Musikalien, hauptsächlich Partituren für Kammer- und Symphoniewerke von Richard Strauß, Brahms, Dvorák und Mahler. Auch in den Nachkriegsjahren wurden die Notenbestände durch Tausch mit Institutionen in Deutschland, Bulgarien, Ungarn, Rumänien, Polen, Korea und den USA vermehrt. Seit 1917 hat sich der Bestand versechsfacht; er umfaßte am 1. Januar 1997 ca. 390.000 Einheiten.

Abteilung Literatur in den Sprachen der Länder Asiens und Afrikas

1.99 Seit Gründung der St. Petersburger Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek im Jahre 1814 wurden Drucke in orientalischen Sprachen des russischen und ausländischen Orients gesammelt sowie wissenschaftliche Schriften westeuropäischer Orientalisten. In der Folgezeit wurden diese Titel aus dem Allgemeinbestand ausgegliedert und zu einer Orient-Sammlung zusammengefaßt. Bei ihrer Reorganisation im Jahre 1852 wurden die Titel in orientalischen Sprachen der Völker des Russischen Reichs separat aufgestellt. Der Restbestand erhielt die Bezeichnung Literatur in den Sprachen der Länder Asiens und Afrikas.

1.100 Im Jahre 1814 umfaßte der orientalische Bestand ca. 700 Bde. Er wurde in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs nur unsystematisch vermehrt, vor allem durch Schenkungen von Privat- und Amtspersonen sowie von Missions- und Entwicklungsgesellschaften in Europa und Asien. Der erste Ankauf erfolgte 1823 in China durch den Leiter der russischen geistlichen Mission, Nikita Jakovlevic Bicurin (1777-1853). 1836 wurde die Orient-Sammlung durch zahlreiche Bücher aus der Privatbibliothek des russischen Bibliophilen Petr K. Graf Suchtelen (s. o. 1.14) erweitert, darunter deutsche Drucke aus dem 17. und 18. Jh.

1.101 An der Erschließung und Ergänzung des Bestandes waren russische und ausländische Wissenschaftler beteiligt. Zu nennen sind Nikita Jakovlevic Bicurin, Franc Francevic Šarmua (1793-1868), Marij Ivanovic Brosse (1802-1880), Josif Fedorovic Gotwald (1813-1897), Kaetan Andreevic Kossovic (1815-1883), Fedor Nikitic Popov (1829-1853), Avraam Jakovlevic Garkavic (1835-1919) und German Germanovic Genkel (*1865).

1.102 Auch in Rußland lebende deutsche Orientalisten wurden von der Bibliothek als Experten hinzugezogen. Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang Christian Martin Fraehn (1782-1851), der von 1818 bis 1829 bei der Anlage der Kataloge orientalischer Drucke beriet und selbst arabische Handschriften und Bücher beschrieb. Um die Organisation der Bibliotheksdienste machte sich der Iranist und Bibliograph Boris A. [Bernhard] Dorn (1805-1881) verdient. In den Jahren 1844 bis 1869 leitete er verschiedene Bibliotheksabteilungen einschließlich der orientalischen. Er inventarisierte, katalogisierte und klassifizierte die Neuzugänge, organisierte Buchausstellungen, erstellte Kataloge der in der Bibliothek aufbewahrten orientalischen Handschriften und kümmerte sich um ihre Erhaltung. An der Erwerbung wirkte auch der Sanskritist Otto von Böhtlingk (1815-1904) mit.

1.103 In der zweiten Hälfte des 19. Jhs erfolgte eine beträchtliche Bestandsvermehrung durch systematische Erwerbung von Büchern und Zeitschriften. Angekauft wurden vor allem Werke zur europäischen Orientalistik, einschließlich der deutschen. Zu Beginn des Jahres 1914, als die Kaiserliche Öffentliche Bibliothek ihr hundertjähriges Jubiläum feierte, umfaßte die Abteilung 54.788 Monographien und einige hundert Zeitschriftentitel. 1974 erhielt sie als Nachlaß des Arabisten Ignatij Julianovic Krackovskij (1883-1951) eine bedeutende Sammlung mit 20.000 bibliographischen Einheiten, darunter 435 historische Germanica (s. u. 2.411-2.420).

Zentrale Bibliographische Auskunftsbibliothek

1.104 Diese Abteilung, die über einen umfangreichen Bestand an Nachschlagewerken und Bibliographien verfügt, entwickelte sich aus dem Zentralen Auskunftsbüro, das seit Oktober 1918 allen öffentlichen Bibliotheken der Russischen Republik bibliographische Auskünfte und Informationen erteilt. Mit der Gründung des Auskunftsbüros nahm die Bibliothek ihre Informationstätigkeit auf, und der Bestand sowie der Auskunftsapparat wuchsen kontinuierlich. Alle bibliographischen Werke in russischer, ukrainischer und belorussischer Sprache sowie Drucke in den Sprachen mit lateinischer Schrift wurden aus den allgemeinen Beständen ausgegliedert und dieser Abteilung übergeben. In die Abteilung gingen alle laufenden in- und ausländischen Neuzugänge ein. Der Bestand erweiterte sich zudem durch Schenkungen und den internationalen Schriftentausch.

Das Katalogsystem der Nationalbibliothek

1.105 Die Anlage der Bibliothekskataloge erfolgte parallel zu der Ausarbeitung der Katalogisierungsprinzipien. Ausgehend von der Anleitung Aleksej N. Olenins von 1809 zum Aufbau der Bestände und Kataloge wurden in der Folgezeit eine Reihe von Regeln, Verordnungen und Instruktionen zur bibliographischen Beschreibung der Drucke und zur Anlage der Kataloge veröffentlicht, die wiederum in den zwanziger, vierziger und sechziger Jahren methodisch ergänzt wurden. Der Aufbau des Katalogsystems der Russischen Nationalbibliothek ist ein eigenes Forschungsthema, das hier nur kurz charakterisiert wird. Hauptschlüssel zu den Bibliotheksbeständen ist das System der Generalkataloge (s. u 3.1), das den Gesamtbestand, seine Signaturen, Indices und Sachrubriken widerspiegelt. Das System der Generalkataloge bilden Alphabetische Kataloge, Systematische Kataloge und der Sachkatalog. Der Alphabetische Generalkatalog besteht aus mehreren Teilen, die verschiedene gedruckte Materialien verzeichnen. Es liegen vor Alphabetische Generalkataloge von Büchern, von Periodika, von Zeitungen, Karten und Notendrucken. Diese Teile gliedern sich ihrerseits nach dem Sprachprinzip. In gleicher Weise gliedert sich der Systematische Generalkatalog. Neben dem Systematischen Generalkatalog der Bücher, der Zeitschriften und Reihen in Russisch, Ukrainisch und Belorussisch in den Spezialabteilungen (Kartenabteilung, Notenabteilung, Zeitungsabteilung usw.) gibt es Systematische Kataloge, die Teile des Systematischen Generalkatalogs bilden. Der Sachkatalog verzeichnet die Bestände in russischer Sprache seit 1931, in europäischen Fremdsprachen seit 1918.

1.106 Das differenzierte System des Leserservice in den wissenschaftlichen und allgemeinen Lesesälen bildete sich parallel zu den Alphabetischen und Systematischen Katalogen der Lesesäle heraus. Die wissenschaftlichen Lesesäle verfügen über Alphabetische Kataloge des Hauptbestandes in russischer Sprache (seit 1931) und in europäischen Fremdsprachen (seit 1501; in Auswahl). Heute umfaßt der Erschließungsapparat der Bibliothek über 200 verschiedene Kataloge und Kartotheken, die sich folgendermaßen gliedern: (1) Moderne allgemeine Kataloge; (2) Moderne Spezialkataloge und Kartotheken; (3) Historische Kataloge. Innerhalb der ersten Kategorie ist das Material nach Druckarten (Bücher, Fortsetzungsausgaben usw.) und Gruppierungsweisen (alphabetische, systematische, sachliche) geordnet. Zur zweiten Kategorie gehören Kataloge und Kartotheken der Sonderabteilungen (Noten-, Zeitungs- und Kartenabteilung). Den dritten Abschnitt bilden Kataloge und Kartotheken ehemaliger Abteilungen, Kataloge der Spezialsammlungen sowie verschiedene gedruckte Kataloge der Bibliotheksbestände.

Vadim L. Parijskij

Boris F. Volodin


Quelle: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Digitalisiert von Günter Kükenshöner.
Hrsg. von Bernhard Fabian. Hildesheim: Olms Neue Medien 2003.