FABIAN HANDBUCH: HANDBUCH DER HISTORISCHEN BUCHBESTÄNDE IN DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH UND EUROPA SUB Logo
 
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Vorwort

In der Spätphase des Buchzeitalters wird die Bedeutung des gedruckten Textes auf neue Art offenbar. Als konstituierendem Medium unserer auf Texte gegründeten Kultur kommt dem Buch über die praktische Funktion hinaus ein symbolischer Wert zu. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung gegenüber der gedruckten Überlieferung. Nicht zufällig mehren sich seit einiger Zeit die Bemühungen, für die Geschichte des Buches wie für die Geschichte der Bibliotheken eine ebenso gegenwartsnahe wie zukunftweisende Perspektive zu gewinnen.

In vielen Ländern wird dem eigenen Schrifttum, dessen man sich als einer zentralen Komponente der kulturellen Tradition vergewissern möchte, neue Aufmerksamkeit zuteil. Allenthalben sind als Ergänzung von Verzeichnissen der laufenden Buchproduktion retrospektive Nationalbibliographien in Arbeit oder in der Planung. In vielen Bibliotheken werden die historischen Bestände unter Einsatz moderner technischer Hilfsmittel neu erschlossen und unter den Prämissen des Bestandsschutzes neu zugänglich gemacht. Als Inventare der gedruckten Überlieferung sind diese Bibliographien und Kataloge von Bibliotheken unentbehrlich. Sie ermöglichen den Zugriff auf einzelne Bücher und damit auf die Elemente, aus denen sich die gedruckte Überlieferung zusammensetzt.

Das Handbuch der historischen Buchbestände repräsentiert eine neue Art der Inventarisierung, deren Grundsätze und Verfahrensweisen sich erst in den letzten Jahren herausgebildet haben. Die Dokumentationsabsicht richtet sich nicht auf das Buch, sondern auf die Bibliothek, nicht auf den einzelnen Titel, sondern auf die Sammlung. Die Elementareinheit ist die Bestandsgruppe in der Bibliothek. Das Handbuch sieht seine Aufgabe darin, die Bestände von Bibliotheken auf eine vielfach nutzbare Weise zu beschreiben. Vor dem Hintergrund der individuellen Bibliotheksgeschichte verdeutlicht es Bestandsprofile und Strukturen von Beständen. Es identifiziert jene Komplexe, deren Ensemble den Charakter einer Bibliothek ausmacht und, darüber hinaus, ihre besondere Leistungsfähigkeit begründet.

Das Handbuch wurde Anfang der achtziger Jahre konzipiert. Es war zunächst als Nachschlagewerk und kulturwissenschaftliche Dokumentation für die damalige Bundesrepublik Deutschland angelegt. Summarisch, aber doch detailliert sollte es eine Übersicht über die historischen Bestände bieten, die nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges noch vorhanden sind oder seither neu erworben wurden. Gleichzeitig war es als Vademecum für die wissenschaftliche und die bibliothekarische Arbeit mit historischen Buchbeständen gedacht.

Diese Bestandsaufnahme für die Bundesrepublik ist abgeschlossen. Unter Einschluß der Bibliotheken in Mittel- und Ostdeutschland, die seit den politischen Veränderungen des Jahres 1989 wieder frei zugänglich sind, umfaßt das Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland alle Länder der jetzigen Bundesrepublik. Regional gegliedert und das gesamte Spektrum der Bibliotheken einbeziehend, bietet es Beschreibungen der historischen Bestände in mehr als eintausend deutschen Bibliotheken.

Parallel zum Handbuch für Deutschland ist ein Handbuch der historischen Buchbestände in Österreich entstanden. Von der Österreichischen Nationalbibliothek in Zusammenarbeit mit der deutschen Handbuchredaktion nach den gleichen Grundsätzen ausgeführt, vermittelt es einen Überblick über die historischen Bestände in etwa dreihundert Bibliotheken der österreichischen Bundesländer.

Mit dem Handbuch deutscher historischer Buchbestände in Europa wird die Bestandsaufnahme fortgesetzt. Sie wird erweitert, ergänzt und vervollständigt. Erstmals wird der Versuch unternommen, die Verbreitung historischer Bestände aus dem deutschsprachigen Raum in Bibliotheken der nicht-deutschsprachigen europäischen Länder systematisch nachzuweisen.

Im deutschsprachigen Raum - wie immer er sich mit seinen Grenzgebieten im geschichtlichen Wandel definiert - ist über die Jahrhunderte ein Schrifttum von außergewöhnlicher Vielfalt und Reichhaltigkeit entstanden. In seiner Gesamtheit repräsentiert dieses Schrifttum eine gedruckte Überlieferung, die zu den bedeutsamen Traditionsbeständen der europäischen Kultur gerechnet werden muß. Nur wenige andere europäische Länder haben, retrospektiv gesehen, eine ähnlich umfassende und differenzierte Buchproduktion aufzuweisen.

Kulturelle Austauschvorgänge gehören zu den Selbstverständlichkeiten des europäischen Geisteslebens. Von Anfang an hat das gedruckte Buch über nationale Grenzen hinaus Verbreitung gefunden. Der deutschsprachige Raum hat, wie sich in den Handbüchern der historischen Buchbestände für Deutschland und Österreich erweist, das Schrifttum anderer Länder aufgenommen. Umgekehrt ist der deutschsprachige Raum durch die Jahrhunderte ein kulturelles Exportgebiet gewesen; ungeachtet der Veränderungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist er dies noch immer.

In der Epoche des lateinischen, auf den gelehrten Leser ausgerichteten Buchmarktes verbreitete sich die Buchproduktion des deutschsprachigen Raumes - vom Zentralpunkt der Frankfurter Buchmesse - natürlicherweise über ganz Europa. Die Präsenz lateinischen Schrifttums deutscher Herkunft in europäischen Bibliotheken bedarf daher ebensowenig der Erklärung wie die Präsenz entsprechenden Schrifttums französischer oder niederländischer Provenienz. In seinen Buchbeständen wie in seinen intellektuellen Verfahrensweisen war das gelehrte Europa der Zeit ein ungeteiltes Europa.

Mit der Durchsetzung der Nationalsprachen, die sich in Mittel- und Osteuropa langsamer vollzog als im westlichen Europa, gewann das Schrifttum aus dem deutschsprachigen Raum eine neue Bedeutung als Medium des literarischen Ausdrucks, der gelehrten Mitteilung und der wissenschaftlichen Erkenntnis. Wie das Schrifttum aus anderen Ländern und Regionen fand es Beachtung als nationalkultureller Beitrag zu einem sich differenzierenden europäischen Geistesleben. Als moderne Sprache, die für die Gelehrten und Gebildeten des Kontinents zur Verkehrssprache wurde, trat das Deutsche neben das Französische. Besonders in Mittel-, Nord- und Osteuropa übernahm es die Funktion einer lingua franca, die auch der Vermittlung anderer Nationalkulturen diente.

Seit dem Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts sind allenthalben in den nicht-deutschsprachigen Ländern Sammlungen von deutschem Schrifttum angelegt worden, die einen bemerkenswerten, teilweise außerordentlichen Umfang aufweisen. Die heute historischen Bestände waren damals Sammlungen zeitgenössischer Literatur, die ein aktuelles Interesse befriedigten. Im neunzehnten Jahrhundert wurden sie beim Ausbau der Nationalbibliotheken vielfach retrospektiv ergänzt, bisweilen in beeindruckendem Maße. In England versuchte Antonio Panizzi - richtungweisend für Europa - die Bibliothek des Britischen Museums so mit ausländischem Schrifttum auszustatten, daß sie nur den besten Bibliotheken in den Ursprungsländern nachstand.

Viele dieser Sammlungen übertreffen in Umfang und Qualität die Bestände an fremdsprachigem Schrifttum in den Bibliotheken des deutschsprachigen Bereichs. Sie sind aufschlußreich als kulturelle Indikatoren. Darüber hinaus beanspruchen sie ein eigenes buchhistorisches Interesse. In einer Reihe von Ländern sind sie Teil eines reichen universalen Kulturbesitzes. Anderwärts, vor allem in Mittel- und Osteuropa, sind sie integraler Bestandteil des eigenen kulturellen Erbes. Hier diente das deutschsprachige Schrifttum nicht nur der Vermittlung fremden Kulturgutes. Es hatte auch eine katalytische Funktion in Prozessen, die zur Ausbildung der eigenen nationalen Kultur und Identität führten.

Das Handbuch deutscher historischer Buchbestände in Europa dokumentiert diese Sammlungen, die einen historischen Charakter und zugleich einen historischen Ursprung haben. Soweit wie möglich, soll es ein umfassendes und differenziertes Bild von der Verbreitung des deutschsprachigen Schrifttums im nicht-deutschsprachigen Bereich Europas vermitteln. Seine Zielsetzung ist paradigmatisch. In der Konzentration auf ein großes, aber doch fragmentarisches Segment der Buchproduktion des Kontinents möchte es zu unserer Kenntnis der Bücher Europas beitragen.

Im deutschsprachigen Bereich sind diese in ausländischen Bibliotheken aufbewahrten Bestände wenig oder gar nicht bekannt. Sie dürfen indessen nicht unbeachtet bleiben, denn sie enthalten mehr als exportierte Gebrauchsliteratur. Sie beherbergen Schrifttum, das innerhalb des deutschsprachigen Raumes nicht oder nicht mehr vorhanden ist: zum einen deutsche Drucke, die im nicht-deutschsprachigen Raum erschienen sind, als das Deutsche dort die lingua franca war; zum anderen Werke, über die deutsche Bibliotheken nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges nicht mehr verfügen. Nur unter Einbeziehung ausländischer Sammlungen ist die gedruckte Überlieferung des deutschsprachigen Raumes vollständig zu überblicken.

Die ersten Planungen für das Handbuch deutscher historischer Buchbestände in Europa gehen auf die zweite Hälfte der achtziger Jahre zurück. Sie sind im zweigeteilten Europa entstanden. An dem 1983 vorgestellten Entwurf für ein Handbuch der historischen Buchbestände in der Bundesrepublik Deutschland wurde im westlichen Ausland zu Recht der Ausschluß der Bestände in Mittel- und Ostdeutschland bemängelt. In der Folge richtete sich die Aufmerksamkeit auch auf die Bibliotheken jenseits des kaum durchdringlichen Eisernen Vorhangs.

Im Umkreis der Verhandlungen mit der Generaldirektorin der Deutschen Staatsbibliothek, Frau Professor Dr. Friedhilde Krause, über ein Handbuch für die damalige DDR ergaben sich 1987 auch Gespräche mit Bibliotheksdirektoren der damals noch sozialistischen Länder Mittel- und Osteuropas. Einer meiner ersten Gesprächspartner war der damalige Direktor der Bibliothek des Nationalmuseums in Prag, Dr. Jaroslav Vrchotka. Die Unterredung mit ihm fand im Amtszimmer des Generaldirektors der British Library in London statt.

Allenthalben bestand Interesse an dem Projekt. An ein breit angelegtes Handbuch für Europa wagte indessen niemand zu denken. Bei der Rückkehr von einer gemeinsamen Besprechung in Ost-Berlin im August 1987 ermutigte mich der damalige Generalsekretär der Volkswagen-Stiftung, Herr Rolf Möller, ungeachtet aller Widrigkeiten mit der Planung für eine Dokumentation der deutschen historischen Buchbestände außerhalb der Grenzen der damaligen Bundesrepublik fortzufahren. Das erste Ziel war und blieb ein Handbuch für die DDR. Nach zweijährigen Verhandlungen wurde im September 1989 Frau Professor Krause die Genehmigung dazu erteilt. Mit Unterstützung durch die Volkswagen-Stiftung begannen die Arbeiten noch vor der Wiedervereinigung.

Verhandlungen mit dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien, die im Oktober 1988 begannen, führten zu dem Handbuch der historischen Buchbestände in Österreich, das gemeinsam durch das Ministerium und die Volkswagen-Stiftung gefördert wurde. Ob die Bemühungen um ein Handbuch deutscher Buchbestände in Europa mehr als einen bescheidenen Anhang zum deutschen und österreichischen Handbuch erbringen würden, war zu dieser Zeit noch ungewiß. Nach Besprechungen mit den Nationalbibliotheken in den skandinavischen Ländern im Oktober 1989 schien nicht ausgeschlossen, daß sich zumindest für einige Länder eine systematische Bestandsaufnahme ergeben könnte.

Durch den politischen Umbruch im November 1989 änderte sich die Situation; gänzlich neue Perspektiven taten sich auf. Die Volkswagen-Stiftung gab mir sogleich die Möglichkeit, die Konzeption für das europäische Handbuch den neuen Gegebenheiten anzupassen. Aber auch die erweiterte Konzeption war noch nicht endgültig, wie sich in den nächsten beiden Jahren aus den komplexen Verhandlungen in jenen mittel- und osteuropäischen Ländern ergab, die ehemals enge Beziehungen zum deutschsprachigen Kulturraum gehabt hatten.

Die Idee des Handbuches fand überall bereitwillige Aufnahme und lebhafte Zustimmung. Gleichwohl standen der Ausführung des Vorhabens mannigfache Schwierigkeiten entgegen, so daß mit dem Fortschreiten der Arbeiten die Planung wiederholt revidiert werden mußte. Immer mehr Länder fanden sich zur Mitwirkung an dem Unternehmen bereit. Manches mußte auf die raschen und manchmal radikalen politischen Veränderungen sowie auf die sich wandelnden Bibliothekssysteme abgestimmt werden. Vor allem aber wiesen die aus dem deutschsprachigen Raum stammenden historischen Buchbestände allenthalben einen größeren Umfang auf als ursprünglich anzunehmen war.

Die Beschreibungen der Bibliotheksbestände sind von Mitarbeitern in den einzelnen Ländern im Zusammenwirken mit der Zentralredaktion des Handbuches verfaßt worden. Nur die Beiträge für Schweden und Finnland sowie vereinzelte Einträge für andere Länder stammen von deutschen Verfassern. Soweit möglich, wurde den unterschiedlichen Gegebenheiten Rechnung getragen, die sich in den Bibliothekssystemen der einzelnen Länder manifestieren. Der Benutzer des Handbuches wird die Sachkenntnis schätzen, die die Beiträger im Umgang mit einem ausländischen Schrifttum beweisen, zu dessen Ursprungsländern viele von ihnen über Jahrzehnte nicht immer den wünschenswerten Zugang hatten.

Wie die Zerstörung von Beständen gehören auch Verschleppung, Verlagerung und Umverteilung von Bibliotheksgut zu den dunklen Kapiteln der Bibliotheksgeschichte. Wie stark Bestände aus dem deutschsprachigen Bereich davon affiziert wurden - in zurückliegenden Jahrhunderten und besonders in diesem Jahrhundert - verdeutlichen die Beiträge aus mehr als einem Land. In den Bestandsgeschichten der Bibliotheken tritt indessen auch zutage, daß Bestände anderer Provenienz nicht minder von Kriegen und politischen Veränderungen betroffen worden sind. Die Geschichte der europäischen Bibliotheken weist glanzvolle Seiten auf. In diesem Handbuch bietet sie sich jedoch immer wieder auch als tragische Bibliotheksgeschichte dar.


Quelle: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Digitalisiert von Günter Kükenshöner.
Hrsg. von Bernhard Fabian. Hildesheim: Olms Neue Medien 2003.