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Bibliotheken in Bulgarien

In Bulgarien wurde mit der Annahme des orthodoxen Christentums das kyrillische Alphabet schon im 9. Jahrhundert offiziell zum Gebrauch in Religion und Schrifttum anerkannt. Die politische Macht des Ersten Bulgarischen Reiches hatte die schnelle Verbreitung der neuen Schrift unter den slawischen Nachbarvölkern zur Folge. Der daraus resultierende rasche Zuwachs an Schrifttum trug in kurzer Zeit zur Gründung reicher Dom- und Schloßbibliotheken bei, so in der Hauptstadt Preslav oder in Ohrid. Unter Symeon I. (ca. 863-927), seit 918 bulgarischer Zar, erlebte das Land ein Goldenes Zeitalter seiner Kultur. Im 14. Jahrhundert, in der Zeit des Zweiten Bulgarischen Reiches, wurden in der damaligen Hauptstadt Veliko Tarnovo zahlreiche neue Bibliotheken mit reichen Buchbeständen gegründet. In den Jahren 1393 bis 1396 unterwarfen die Türken das Land. Alle Bibliotheken wurden im Laufe der anschließenden 500jährigen osmanischen Herrschaft vollkommen vernichtet. Die Entwicklung der blühenden mittelalterlichen Kultur Bulgariens brach mit diesem Ereignis ab.

Die Bibliotheken der bulgarischen Renaissance

Die Aufklärung setzte in Bulgarien zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein und führte zu einem Wiedererstarken bulgarischen nationalen Selbstbewußtseins. Der erste Vertreter der bulgarischen Befreiungsbewegung, Georgi S. Rakovski (1821-1867), formulierte ihre Grundsätze: ,,Die Kirche vereinigt das Volk, die Schule gibt ihm Kenntnisse, und das Schrifttum unterstützt das Bürgerrecht``. Drucker und Bibliothekare bulgarischer Herkunft wirkten zunächst vor allem in der Emigration, u. a. in Österreich, Rumänien, Rußland und der Türkei. Später etablierten sich Buchdruck und Buchhandel auch in Bulgarien selbst. Nach 1830 entwickelte sich in Bulgarien noch unter osmanischer Herrschaft ein modernes Schulwesen mit ersten Schulbibliotheken in Gabrovo, Elena, Sopot, Ruse u. a.

Eine wichtige Erscheinung in der Aufklärung Bulgariens sind die sogenannten ,,Citališta`` [,,Lesehallen``], volkstümliche Kulturvereine, die neben ihrer Hauptfunktion als Bildungszentren und Volksbüchereien auch eine vielseitige kulturelle Tätigkeit entwickelten, u. a. mit Theater- und Musikveranstaltungen. Mehr als 180 Bibliotheken dieser Art wurden in Bulgarien gegründet. Nicht wenige von ihnen entwickelten sich zugleich zu Zentren des Widerstandes gegen die osmanische Herrschaft. Auch im Ausland, in Belgrad, Wien, Odessa, Bolgrad, Prag, Solun und Krajova, gründeten Bulgaren bedeutende ,,Citališta``. In der Emigration entstand der Plan, die Bibliothek in Bukarest zur Nationalbibliothek eines befreiten Bulgarien zu machen. Ähnliche Bestrebungen gab es unter den Mitgliedern der bulgarischen ,,Citalište`` in Tzarigrad [Istanbul].

Das Bibliothekswesen des befreiten Bulgarien

Nachdem ein Aufstand der nationalen Befreiungsbewegung unter Führung des Bulgarischen Revolutionären Zentralkomitees im Jahre 1876 gescheitert war, beendete der Russisch-Türkische Krieg (1877/78) schließlich die Herrschaft des Osmanischen Reiches über Bulgarien. Der Berliner Kongress teilte 1878 Bulgarien in ein selbständiges Fürstentum und in die autonome Provinz Ostrumelien. Nach der Befreiung Bulgariens wurden im Geiste der Aufklärung zahlreiche Volksbüchereien gegründet, die den Namen und die Funktion der ,,Citališta`` übernahmen. Nach dem Ersten Weltkrieg betrug ihre Zahl bereits ca. 1000, Anfang der vierziger Jahre des 20. Jhs etwa 2900. Ein entsprechender Verband wurde 1911 gegründet, und 1927 trat ein Gesetz zur Struktur und Tätigkeit der ,,Citališta`` in Kraft. Die größten ,,Citališta`` in Städten wie Lom, Dupnica, Samokov, Kjustendil, Sliven, Šumen, Lovec, Svistov, Pazardzik und Burgas verfügten über eigene Gebäude und Buchbestände. 1937 benannte der Verband der bulgarischen ,,Citališta`` die Bibliothek in Pleven als Vorbild für die Arbeit in den Volksbüchereien.

In diese Zeit fiel auch die Gründung großer Sammlungen mit wissenschaftlichem Charakter. Die heutige Nationalbibliothek der Heiligen Kyrillus und Methodius [Narodna biblioteka ,,Sv. sv. Kiril i Metodij``] entstand aus der 1879 gegründeten Volksbibliothek in Sofija. Im Jahre 1888 folgte in Sofija die Gründung der Zentralbibliothek der Universität Hl. Kliment Ohridski [Centralna biblioteka na Sofijskija universitet ,,Sv. Kliment Ohridski``], die heute die größte wissenschaftliche Bibliothek des Landes ist. Bereits 1869 war im rumänischen Braila die Vorgängerinstitution der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften entstanden. 1911 wurde schließlich in Sofija die Bulgarische Akademie der Wissenschaften mit einer eigenen Bibliothek [Centralna biblioteka na Balgarskata akademija na naukite] gegründet. Diese Bibliothek kann unter den wissenschaftlichen Bibliotheken des Landes heute auf die längste Tradition zurückblicken. In Plovdiv entstand 1879 als Bereichsbibliothek der Provinz Ostrumelien [Iztocna Rumelija] die Volksbibliothek Ivan Vazov [Narodna biblioteka ,,Ivan Vazov``]. Sie nimmt heute als größte Regionalbibliothek die Rolle einer zweiten Nationalbibliothek ein.

Die Entwicklung der bulgarischen Schulbibliotheken weist Ähnlichkeiten mit der der Volksbüchereien auf. Im Jahre 1896 erließ das Bildungsministerium ein Gesetz zu den Schulbibliotheken. Noch 1928/29 verfügten die meisten dieser inzwischen etwa 3700 Schulbibliotheken jedoch nur über geringe Buchbestände, die oft aus Spenden finanziert und von Lehrern unentgeltlich betreut wurden. In dieser nach wie vor wenig zufriedenstellenden Form können sie den Bedürfnissen der Schüler und Lehrer kaum entsprechen. Eine Ausnahme stellen die Gymnasialbibliotheken in den Großstädten Sofija, Plovdiv, Ruse, Lovec, Warna, Burgas, Sliven und Gabrovo dar, in denen professionelle Bibliothekare arbeiteten. Schulen, in denen das Fach Deutsch unterrichtet wird, z. B. zwei in Sofija sowie andere in Plovdiv, Pazardzik, Lovec oder Ruse, besitzen Sammlungen von Lehr-, Hand- und Wörterbüchern sowie Literatur in deutscher Sprache.

Von großer Bedeutung für die Entwicklung des bulgarischen Bibliothekswesens ist das Gesetz zur Pflichtablieferung aus dem Jahre 1897. Bis 1920 hatten nur die Nationalbibliothek in Sofija und die Bezirksbibliotheken in Plovdiv, Tarnovo und Šumen das Pflichtexemplarrecht. Seit dem Zweiten Weltkrieg erhalten neben allen Bezirksbibliotheken auch die Universitätsbibliothek und die Bibliothek der Akademie der Wissenschaften in Sofija Pflichtexemplare. Das Pflichtexemplarrecht für das Gebiet der Medizin hat die Zentrale Medizinische Bibliothek, für das Gebiet der Technik die Zentrale Technische Bibliothek und für das Gebiet der Landwirtschaft die Zentrale Landwirtschaftliche Bibliothek (alle in Sofija).

Der Staatssozialismus und das Bulgarische Bibliotheksnetz

Mit der Einführung des staatssozialistischen Systems nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die bulgarischen Bibliotheken unter zentrale Leitung gestellt. Charakteristisch für ihre weitere Entwicklung sind zwei Tendenzen: Zum einen sollte freier Zugang zu den Beständen bestehen; zum anderen wurde verlangt, daß die Bibliotheken mit ihren Beständen eine Informationstätigkeit zugunsten einer politischen Ideologie ausübten. Dies betraf einen Nationalbuchbestand von etwa 100 Millionen Bestandseinheiten (umgerechnet etwa 12 bis 13 pro Kopf der Bevölkerung).

Die Bibliothekspolitik heute

Die heutige Bibliothekspolitik Bulgariens zielt gleichermaßen auf eine Bewahrung der Bestände und auf deren Ergänzung. Das Bibliothekswesen soll erneuert und seine Informationsmöglichkeiten verbessert werden, so daß sich die Bibliotheken zu Informationszentren mit modernen normativen und technologischen Methoden entwickeln. Die Automatisierung der Nationalbibliographie stellt einen ersten Schritt dar, die begonnene Arbeit im Internet bietet weitere Entwicklungsmöglichkeiten. Die politische und wirtschaftliche Lage schränkt jedoch die finanziellen Möglichkeiten der Bibliotheken zunehmend ein, was sich auf die gesamte Bibliothekstätigkeit, die Benutzung und Konservierung der Bestände und den Neuerwerb auswirkt.

Ani Gergova


Quelle: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Digitalisiert von Günter Kükenshöner.
Hrsg. von Bernhard Fabian. Hildesheim: Olms Neue Medien 2003.