FABIAN HANDBUCH: HANDBUCH DER HISTORISCHEN BUCHBESTÄNDE IN DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH UND EUROPA SUB Logo
 
Home
HomeRegionen:Stadtregister:Abkürzungen
Volltextsuche:

trunkiert

BenutzerprofilLogin

Impressum
 Home > Deutschland > Hessen

Bibliotheken in Hessen

Die hessische Bibliothekslandschaft [1] ist in ihrer heutigen Ausprägung das Ergebnis eines vielschichtigen und über Jahrhunderte währenden Prozesses, dessen Verlauf keineswegs als geradlinig bezeichnet werden kann. Dabei erweist sich die topographische Einheit "Hessen", wie sie seit 1946 besteht und wie sie hier zugrunde gelegt wurde, als ausgesprochen schwierig. Anders als etwa Bayern, das seit dem 16. Jahrhundert territorial und politisch eine relative Geschlossenheit aufweist, bestand Hessen stets aus einer Vielzahl von kleinen, unterschiedlich souveränen Herrschaftsgebieten [2] .

Man kann mit guten Gründen diesen territorialen Gegebenheiten Rechnung tragen und die hessische Bibliothekslandschaft als eine Vielzahl von fürstlichen, klerikalen oder reichsstädtischen Bibliothekslandschaften beschreiben. Dies hätte jedoch den Nachteil, daß die politischen und kulturellen Veränderungen, die sich auf alle Bibliotheken ausgewirkt haben, immer wieder von neuem herausgestellt werden müßten. Auch würde eine solche Darstellung unvermeidlich über das heutige Hessen hinausgehen, da sich die territoriale Gliederung Hessens in vier Jahrhunderten ständig verändert hat. hnliche Nachteile würden sich ergeben, wenn man jeden Bibliothekstyp für sich in seiner historischen Entwicklung beschriebe. Dann ließe sich die Gleichzeitigkeit der Auswirkungen politischer oder kultureller Veränderungen auf alle Bibliotheken nur schwer oder gar nicht verdeutlichen.

Der Überblick abstrahiert daher weitgehend von der jeweils zeitgenössischen politisch-territorialen Aufgliederung und bezieht auch Gebiete ein, die heute zu Hessen gehören, deren frühere Bewohner sich aber nicht notwendig als Hessen oder dem Hessischen zugehörig empfanden. "Hessen" wird daher nur mit Vorbehalt zur Bezeichnung des Untersuchungsgebietes benutzt.

Von den Anfängen der Reformation bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges (1500--1648)}

Als im Februar des Jahres 1500 mit dem Tod des letzten Erben der oberhessischen Lande die oberhessische Linie endete, nutzte Landgraf Wilhelm II. die Gelegenheit, von ganz Hessen Besitz zu ergreifen. Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts war, so Demandt in seiner Geschichte Hessens, allenthalben ein Zusammenwachsen des hessischen Territorialstaates zu erkennen, wenn es auch noch über dreihundert Jahre dauern sollte, bis sich aus diesen Tendenzen zu territorialer Staatsbildung ein einheitliches Staatsgebiet entwickelte [3] . Im Sommer 1524 bekannte sich Landgraf Phillip, ein Sohn Wilhelms II., zur Reformation und legte somit den Grundstein für den Aufstieg Hessens als Reformationsmacht. Am 26. Oktober 1526 führte Phillip den reformierten Glauben aufgrund eines Beschlusses des Homburger Landtages in Hessen allgemein verbindlich ein.

Bereits ein Jahr zuvor war es zu den ersten Klosterauflösungen gekommen. Seit 1527 wurde dafür eine besondere Klosterkommission eingesetzt, die im Verlaufe ihres Bestehens etwa fünfzig hessische Klöster aufhob [4] . Der konfessionelle Gegensatz, wie er vom 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts Europa überschattete, hatte eine Flut von reformatorischen und gegenreformatorischen Schriften zur Folge. Die Buchproduktion, deren neue Technik sich gerade etabliert hatte, schnellte in die Höhe. Doch waren es nicht nur die technischen Neuerungen, die die Bibliotheksbestände quantitativ verbesserten, sondern auch die protestantische Lehre selbst, die aufgrund ihrer veränderten Einstellung zur Schrift eine höhere Kapazität an Bildungs- und Lehrmöglichkeiten benötigte. Denn nicht nur die konfessionellen Auseinandersetzungen mit Katholiken und Reformierten, sondern auch die innere religiöse Überzeugung der Protestanten forderte die geistige Mobilisierung jedes einzelnen.

Der erste bedeutsame und historisch hinreichend faßbare Einschnitt in die Entwicklung der hessischen Bibliothekslandschaft ist eng mit der reformatorischen Bewegung verbunden. Nur wenige der im Handbuch der historischen Buchbestände} vertretenen Bibliotheken reichen in ihren Anfängen vor die Reformation zurück [5] .

Mit der Durchsetzung der neuen Lehre wurden die Klosterbibliotheken aufgelöst, so daß die Reformation wenn auch nicht zum Verschwinden, so doch zur erheblichen Minderung eines verbreiteten Bibliothekstyps in Hessen beitrug. Die Auflösung der Klöster setzte Ressourcen frei, mit deren Hilfe neue Bibliothekstypen finanziert und eingerichtet werden konnten. Aus dem aufgelösten Klostergut stiftete Landgraf Phillip 1527 in Marburg die erste hessische Universität, in deren Bibliothek viel klösterlicher Buchbestand einging. Obwohl eine konfessionell motivierte Gründung, lag ihr Schwerpunkt auf der juristischen, nicht auf der theologischen Fakultät. Ihr erster Theologe, Lambert von Avignon, wünschte sich, daß hinfort mit weniger Waffen gekämpft würde, dafür aber freie Wissenschaft betrieben werden könnte [6] . Auch wenn aus den Worten Lamberts von Avignon das neue Wissenschafts- und Bildungsideal der Renaissance und des Humanismus spricht, so blieb doch der konfessionelle Gegensatz der wichtigste Faktor der Veränderung der hessischen Bibliothekslandschaft in dieser Zeit. Das eingezogene Klostergut diente neben der Neuregelung des Stipendiaten- und Armenwesens auch der Pfarrbesoldung und -versorgung und der Gründung neuer Pfarreien. Damit trat auch ein neuer Bibliothekstyp in Erscheinung: die Pfarrbibliothek, die in Hessen nach der evangelischen Kirchenordnung von 1537 eingerichtet wurde und die in den "Pfarren Bücher zu Nutz der Kirchen" forderte. Beispiele für die neuen Pfarrbibliotheken sind die Hungener Pfarrbibliothek (um 1600), die Gronaugsche Bibliothek der evangelischen Kirchengemeinde Elben (um 1600; heute im Evangelischen Predigerseminar Hofgeismar) und die Bibliotheca Schottensis (1567; heute im Zentralarchiv der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Darmstadt).

Gewissermaßen antithetisch zu den neuen protestantischen Bibliotheken entstanden zu gleicher Zeit auch neue katholische Bibliotheken. Dies gilt für die Lehrerbücherei der Alten Klosterschule in Bad Hersfeld (heute Bibliothek der Modellschule Obersberg). Etwa 1570 gegründet, diente sie der Ausbildung von katholischen Predigern ebenso wie das 1572 gegründete Jesuitenkolleg in Fulda (heute Bischöfliches Priesterseminar).

Nicht nur der konfessionelle Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten motivierte Bibliotheksgründungen, sondern auch die Ausbildung verschiedener Richtungen innerhalb des Protestantismus. So führte der Übertritt des Landgrafen Moritz vom lutherischen zum reformierten Glaubensbekenntnis, der verbunden war mit dem Versuch, den Calvinismus in Hessen-Kassel landesweit einzuführen, zu Protesten der Marburger Theologieprofessoren. Als Reaktion auf das nunmehr in Marburg vorherrschende Glaubensbekenntnis gründete Moritz' lutherisch gesinnter Bruder, Landgraf Ludwig V. von Hessen-Darmstadt, in Gießen ein Gymnasium, das die "von Marburg vertriebenen lutherischen Professoren aufnahm und schon 1607 vom Kaiser das Universitätsprivileg erhielt" [7] . Eine weitere solche protestantische Gründung ist das 1584 von Johann von Nassau-Dillenburg initiierte Theologische Seminar in Herborn.

Bibliotheken entstanden nicht allein aus Klostervermögen, sondern wesentlich auch aus Buchbeständen der aufgelösten Klosterbibliotheken. So stammt der Gründungsbestand der Bibliothek der Alten Landesschule (1579) in Korbach aus dem aufgelösten Franziskaner-Observantenkloster. Auch der zaghafte Beginn der Fürstenbibliothek Kassel (die heutige Gesamthochschulbibliothek Kassel) beruht auf säkularisierten Beständen hessischer Klöster.

Eine weitere Fürstenbibliothek, die ebenfalls im 16. Jahrhundert entstand, ist die Fürstlich Ysenburg- und Büdingensche Bibliothek. Während die Kasseler Fürstenbibliothek zunächst an den privaten Neigungen und Vorlieben des Landgrafen Phillip und später des Landgrafen Moritz orientiert war, diente die Bibliothek in Büdingen von Anfang an staatlichen und dynastischen Interessen. Sie sollte die Grundlage für die reformatorische Erziehung der jungen Fürsten abgeben.

Daß die Gründung neuer Bibliotheken nicht nur religiös motiviert war, sondern sich auch aus weltlich-administrativen Erfordernissen ergab, zeigt sich an der Solms-Laubachschen Bibliothek, die um die Mitte des 16. Jahrhunderts mit Hilfe von Melanchthon zustande kam. Sie sollte der 1555 gegründeten Lateinschule dienen, zugleich aber auch -- ausgeprägter als die Kasseler und die Büdinger Fürstenbibliothek -- als Landes- und Verwaltungsbibliothek für den Grafen zu Solms-Laubach fungieren. Die Grafschaft hatte kurz zuvor die Reichsunmittelbarkeit erlangt. Das bedeutete zum einen administrativen Mehraufwand, wie sich überhaupt zu dieser Zeit der Verwaltungstätigkeit der Fürsten innerhalb ihrer Territorien neue Aufgaben stellten. Zum anderen übten in den protestantischen Fürstentümern die Landesherren auch das Kirchenregiment aus, so daß in erhöhtem Maße auch kirchliche Angelegenheiten geregelt werden mußten.

So führte der konfessionelle Gegensatz im Zeitraum vom Beginn der Reformation bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges nicht nur zur weitgehenden Verdrängung der Klosterbibliotheken, sondern auch zur Ausbildung einer Vielzahl neuer Bibliothekstypen. Es entstehen in dieser Zeit in Hessen Universitätsbibliotheken, Pfarrbibliotheken, Schulbibliotheken, Fürstenbibliotheken und Landes- oder Verwaltungsbibliotheken. Wenn sie auch in dieser Frühphase noch rudimentär entwickelt sind, so bilden sie sich doch rasch weiter und erhalten sich als Typen bis in die Gegenwart. Einen vergleichbaren Schub in der Bibliotheksentwicklung sollte es erst wieder im 19. Jahrhundert geben, als sich im Bürgertum eine Kraft durchsetzte, die nicht nur die traditionell dominierende Träger- und Stifterschicht von Bibliotheken ablöste, sondern sich auch eigene Bibliothekstypen schuf.

Fürstlicher Absolutismus und Konsolidierungsphase (1648--1750)}

Der Westfälische Frieden von 1648 schrieb die fürstliche Landeshoheit reichsrechtlich fest und ebnete damit dem Absolutismus auch in den deutschen Fürstentümern den Weg. Für Hessen bedeutete der förmliche Abschluß des Dreißigjährigen Krieges überdies die Trennung der beiden landgräflichen Linien von Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel. Im hessischen Einigkeitsvertrag von 1648 wurde jedoch nur vollzogen, was sich vor und während des Dreißigjährigen Krieges bereits als unüberwindbarer Gegensatz herausgebildet hatte. Ungeachtet des theologischen Gegensatzes, der zwischen dem calvinistisch geprägten Landgrafen Wilhelm VI. von Hessen-Kassel und dem orthodox-lutherisch orientierten Landgrafen Georg II. von Hessen-Darmstadt bestand, einte beide die enorme Bürde des Krieges, die es abzutragen galt.

Wie in den anderen deutschen Landesteilen, bemühten sich auch in Hessen die Landesherren um den Wiederaufbau und die Reorganisation ihrer Territorien. In den Mitteln, derer sie sich bedienten und in den Intentionen, die sie verfolgten, wichen sie kaum voneinander ab. Das große Vorbild für sie war der Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV. in Versailles. Die Anlage der hessischen Residenzstädte Kassel und Darmstadt orientierte sich ebenso daran wie der Zentralismus einer straff geführten Administration und die Etablierung stehender Heere. Barocke Repräsentation, ein effizienter Beamtenapparat und militärische Dauerpräsenz wurden zu den Kennzeichen des absoluten Fürstentums -- auch in Hessen. Der Finanzbedarf erhöhte sich dadurch erheblich, und das durch den Krieg ruinierte Land wurde zusätzlich belastet. Abhilfe sollte der Kameralismus schaffen, die deutsche Sonderform des Merkantilismus.

Die Wirtschaftsplanung im Dienste des Staates und der Aufbau einer differenzierten Zentralverwaltung zur Festigung der politischen, ökonomischen und sozialen Ordnung bedurfte qualifizierter Fachkräfte. Allenthalben ist daher auch in den hessischen Landesteilen der Neuaufbau und die Ausweitung des Schul- und Ausbildungswesens zu beobachten. Hand in Hand damit ging ein innerer Wandel, der zu einer Zurückdrängung der theologischen Lehrgehalte zugunsten der neuen staatlich-weltlichen Ausbildungserfordernisse führte.

War es während der Reformationszeit mit ihren konfessionellen Auseinandersetzungen zur Ausbildung neuer Bibliothekstypen gekommen, so stagnierte diese Entwicklung während des Krieges und der Nachfolgezeit. Plünderungen und Brandschatzungen führten häufig zum Verlust oder zur Dezimierung wertvoller Bestände. Von der Bibliothek des Benediktiner-Konvents in Fulda z. B. überdauerte nur wenig den Krieg, den Rest verwahrt heute die Hessische Landesbibliothek. Ein ähnliches Schicksal erlitt die Bibliothek des Zisterzienserklosters Arnsburg, deren übriggebliebene Bestände sich heute in der Solms-Laubach'schen Bibliothek befinden. Die Alte Klosterschule in Bad Hersfeld verlor durch Beschlagnahmung ihren wertvollsten Bestand.

Obwohl die knappen finanziellen Ressourcen den Ausbau der Bibliotheken nach dem Dreißigjährigen Krieg nicht oder nur in geringem Umfang erlaubten, trat doch nach den Kriegswirren eine gewisse "Normalisierung" der Verhältnisse ein. Die beiden hessischen Universitäten wurden mit ihren Bibliotheken nach Marburg (1650) und Gießen (1653) zurückverlegt. Insgesamt ist diese Phase der Bibliotheksgeschichte weniger durch äußere Veränderungen als durch einen inneren Wandel gekennzeichnet. Das Hauptinteresse der Landesherren richtete sich auf die Restauration, die Konsolidierung und die Reorganisation ihrer Territorien, damit wurden den Bibliotheken im Zuge ihres Wiederaufbaus neue Funktionen im Dienst der zentralistischen Staatsentwicklung zugewiesen.

Nirgends zeigt sich dies deutlicher als bei den hessischen Schulbibliotheken. Ursprünglich Instrumente im konfessionellen Kampf um die "richtige Lehre", wurden sie nach den durch den Krieg erzwungenen Stillegungen reaktiviert, und zwar in erster Linie als Ausbildungsstätten für die Beamtenschaft, deren der Staat bedurfte. Hinweise auf diese Entwicklung finden sich in ganz Hessen. So gab etwa Fürst Johann Ludwig von Nassau in Hadamar 1652 den Jesuiten den Auftrag, ein Gymnasium neben dem Jesuitenkolleg zu errichten. In Weilburg erhielt das um 1530 gegründete Gymnasium Philippinum eine Bibliothek. Die Vormundschaftsregentin Charlotte Amalie von Nassau-Usingen entwarf ein Regierungsprogramm (1728), das die "Trennung von Hof- und Landesverwaltung" vorsah und später "die Scheidung von Verwaltung und Justiz in der Zentralverwaltung" vollzog [8] . Die Schulpflicht war von ihren Vorgängern bereits 1694 für Nassau-Usingen eingeführt worden. Unter ihrer Regierungszeit (1718--1735) wurde sie auch auf die Wintermonate ausgedehnt. 1734 wurde in Idstein ein Lehrerseminar eingerichtet, und in Usingen, damals Residenzstadt des Teilfürstentums, wurde von Charlotte Amalie die nassauische Bibliothek initiiert. Vor allem in dieser Bibliothek, die den Grundstock für die spätere Hessische Landesbibliothek in Wiesbaden bildete, treten die neuen Entwicklungen beispielhaft hervor.

Die Einführung der ganzjährigen Schulpflicht wie auch die Errichtung eines Lehrerausbildungsseminars und die Begründung einer Bibliothek, deren Bestand wesentlich Staats- und Rechtswissenschaften umfaßte, sind bildungspolitische Steuerungsinstrumente zum Ausbau fürstlicher Staatsmacht. Mit diesem Konzept steht Nassau-Usingen keineswegs allein in Hessen da. Auch Landgraf Wilhelm VI. von Hessen-Kassel setzte für sein Landesfürstentum die Trennung von Hof- und Staatswissenschaften, von militärischem und zivilem Bereich durch [9] . Kassel und Marburg dienten ihm als Verwaltungs- und Gerichtsmittelpunkte einer sich stärker auffächernden Zentralverwaltung. hnlich verfuhr Fürst Wilhelm IV. von Nassau-Dillenburg, der im Haag residierte und von dort aus für seine deutschen Gebiete eine Zentralbehörde mit Justizkanzlei, Rentkammer und Zentralarchiv in Dillenburg einrichtete [10] . Der frühere Bestand befindet sich heute im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden.

Mit den neuen Aufgaben, die den Bibliotheken zugewiesen wurden, wurden die Bestände zwangsläufig profaner. Hatte bis dahin vor allem theologische und religiöse Literatur den Inhalt der Bibliotheken bestimmt, so setzte mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges eine Entwicklung ein, in deren Verlauf juristischer, historischer und kameralwissenschaftlicher Literatur eine ständig wachsende Bedeutung zukam. Ihren äußeren Ausdruck fand diese Entwicklung auch in der Professionalisierung des Bibliothekswesens selbst. Für die Stadtbibliothek Frankfurt wurde erstmals 1668 und für die Darmstädter Fürstenbibliothek des Landgrafen Ernst Ludwig erstmals 1692 ein (nebenamtlicher) Bibliothekar eingestellt. Vor allem die Frankfurter Stadtbibliothek ist hier von Interesse. Ihre Wurzeln reichen bis ins Spätmittelalter zurück, doch zur eigentlichen Gründung der Stadtbibliothek kam es erst durch den Ratsbeschluß von 1668. Er faßte zwei bislang getrennt geführte Bestände, die der Ratsbibliothek und die der Bibliothek des Franziskaner-Konvents, zusammen. Verwaltung und Betreuung des neuen Gesamtbestandes wurden nur wenige Jahre später einem hauptamtlichen Bibliothekar übertragen. Dieser "schuf dauernde Regelungen für Erwerbung und Instandhaltung der Bücher, für Schlüsselrecht, Öffnungszeiten und Ausleihe" [11] . Die personalpolitischen Entscheidungen des Rates, der stets Juristen in dieses Amt berief, drängten den Einfluß des Klerus sukzessive zurück. Die Bestände wurden den Erfordernissen einer bürgerlich geprägten Handels- und Messestadt angeglichen.

Eine andere, nicht minder wichtige zeitgenössische Strömung in der Umbildung des traditionellen Bibliotheksbestandes repräsentiert das 1709 neuerbaute Collegium Carolinum, "das, mit einer Kunstakademie und naturwissenschaftlichen Instituten verbunden, gewissermaßen eine erste technische Hochschule Deutschlands darstellte" [12] . Mit diesem Projekt wollte Landgraf Karl ein geistiges Zentrum im neuen Landesmittelpunkt Kassel schaffen. Kunst und Naturwissenschaften standen im Vordergrund und sollten der fürstlichen Residenz jenen zusätzlichen Glanz verleihen, den die Theologie nicht mehr verleihen konnte [13] .

Auch neue ökonomische Interessen dokumentieren sich in den Bibliotheksbeständen. Literatur der praktischen Handreichungen findet Eingang in die Bestände. Dies zeigt sich an der Bergbauliteratur oder an der Agrarliteratur, deren Kenntnis ihrerseits zur Voraussetzung für die langsam einsetzenden Innovationen im Land- und Grubenbau werden konnte.

So veränderte sich die Bibliothekslandschaft von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nur wenig. Die Bibliothekstypen blieben weitgehend konstant. Im Inneren fanden dagegen erhebliche Umstrukturierungsprozesse statt. Sie begleiteten nicht nur die Umwandlung des spätmittelalterlichen Personenverbandsstaates zum frühneuzeitlichen, vom fürstlichen Absolutismus geprägten Beamtenstaat, sondern halfen vor allem auch, diese Veränderung durchzusetzen. Der Beamtenstaat bedurfte qualifizierter Kräfte. Dies führte zu Neubildungen von Schul- und Ausbildungsstätten, aber aus Kostengründen auch zur Umgestaltung des traditionellen, in der Reformationszeit gewachsenen Schulnetzes. Die fürstlichen Bibliotheken erweiterten sich thematisch. Zu den herkömmlich theologisch orientierten Beständen kamen andere hinzu, die weniger den gelehrten Studien als den praktischen Bedürfnissen von Ökonomie und Verwaltung dienten. Erste Ansätze zu einer Professionalisierung in der Literaturversorgung zeichneten sich ab.

Das bürgerliche Zeitalter (1750--1900)}

Der Zeitraum von 1750 bis zu den ersten Besetzungen durch die französischen Revolutionsarmeen am Ende des 18. Jahrhunderts ist in Hessen von politischen, kulturellen und sozialen Maßnahmen der landesfürstlichen Herrschaft geprägt. In Hessen-Kassel, in Hessen-Darmstadt, in der Reichsabtei Fulda und in der Grafschaft Nassau-Dillenburg lassen sich Bemühungen erkennen, Handel, Verkehr, Finanz- und Steuerwesen, Verwaltung und Bildungswesen zu reformieren. Vorbild für die Reformen war nunmehr der Hof Friedrichs des Großen, dessen Ansehen nach dem für Preußen erfolgreich beendeten Siebenjährigen Krieg noch stieg. Mit den schnellen und überlegenen Siegen der französischen Revolutionsarmeen über die Heere der europäischen Monarchien änderte sich dies. Die Reformbedürftigkeit des preußischen Staates wie auch der hessischen Fürstentümer wurde deutlich. Großen Einfluß auf die innenpolitischen Zustände der hessischen Territorien hatten jene Verfassungsänderungen, die sich aus den napoleonischen Annexionen und der Neuaufteilung der Rheinbundstaaten ergaben. Vieles aus dem Code Napoleon floß in die hessischen Landesverfassungen ein. Die obersten Staatsbehörden wurden neu organisiert, und in allen hessischen Territorien wurde die Verwaltung effektiver gestaltet. Die Veränderungen wurden zum Teil auch durch die territorialen Umgestaltungen notwendig, die sich durch die napoleonischen Annexionen der linksrheinischen Gebiete ergaben. Die Fürstentümer Nassau-Usingen und Nassau-Weilburg wurden 1806 zu einem Herzogtum zusammengeschlossen und traten ebenso dem Rheinbund bei wie das nunmehrige Großherzogtum Hessen (vormals Landgrafschaft Hessen-Darmstadt). Hessen-Kassel wurde ebenfalls 1806 in ein Kurfürstentum unter der Herrschaft von Napoleons Bruder Jérôme umgewandelt. Neben der Aufwertung vieler landesherrlicher Titel kam es zu territorialen Entschädigungen für jene Landesfürsten, die linksrheinische Gebietsverluste hinnehmen mußten. Der Reichsdeputationshauptschluß von 1803 sah dazu die Aufhebung der Hoheits- und Eigentumsrechte der meisten geistlichen Fürstentümer vor. Dazu kam die Mediatisierung der reichsunmittelbaren Städte und Gebiete.

Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft sollten im Gefolge des Wiener Kongresses (1815) die französischen Neuerungen beseitigt und die alte Ordnung wiederhergestellt werden. Dies gelang in territorialer Hinsicht nicht immer und überhaupt nicht im Bereich der Verfassung. Das von Napoleon geschaffene Herzogtum Nassau blieb nach 1815 bestehen, wenn auch seine Verfassung ansatzweise revidiert wurde. Anders das Kurfürstentum Hessen. Mit der Rückkehr des durch Jérôme vertriebenen Landesherrn, Wilhelm I., mußte es erhebliche territoriale Einschnitte hinnehmen. Für die Organisation des Territoriums wurde für seinen Nachfolger, Kurfürst Wilhelm II. (seit 1821) Preußen Vorbild, wie man sich überhaupt in Hessen an der preußischen Provinzeinteilung und an der von Freiherr vom Stein initiierten kommunalen Selbstverwaltung orientierte. Durchsetzen konnte sich die preußische Verwaltungs- und Staatsorganisation endgültig in den Ländern, die Preußen 1866 im deutsch-österreichischen Kriege annektierte. Wie schon unter der napoleonischen Besetzung, kam es in Hessen zu territorialen Neuordnungen und Verfassungsänderungen. Das Kurfürstentum Hessen, das Herzogtum Nassau und die Freie Stadt Frankfurt fielen ebenso wie kleine Teile des Großherzogtums Hessen an Preußen.

Die zwischen 1750 und 1900 häufigen Wechsel der landesherrlichen Oberhoheit mit unterschiedlichen politischen Zielsetzungen und Verfassungsänderungen blieben nicht ohne Auswirkung auf die hessische Bibliothekslandschaft. Veränderungen in der Verwaltungsorganisation und die Säkularisierung kirchlicher Besitztümer führten sowohl in der napoleonischen wie später in der preußischen Zeit zu Auflösungen und Neugründungen, zu Erweiterungen und Reduktionen. Während beider Perioden finden sich Bibliotheken, die in ihrem Wachstum stagnierten. Ein gutes Beispiel ist die Frankfurter Stadtbibliothek, die während der Besetzung der Stadt durch napoleonische Truppen und unter der Herrschaft des Fürstprinzen Karl Theodor von Dalberg kaum noch Mittel zu ihrem Erhalt zugesprochen bekam. Daß es sich dabei keineswegs um eine prinzipiell bibliotheksfeindliche Politik Dalbergs handelte, zeigen seine Zuwendungen an die Bibliothek der Wetterauischen Gesellschaft für die gesamte Naturkunde in Hanau.

Mit dem Ende des durch Napoleon geschaffenen Großherzogtums Frankfurt nahm die Frankfurter Bibliothek dagegen einen erheblichen Aufschwung durch die Integration säkularisierter Bibliotheksbestände und durch die Neuorganisation der Bibliothek unter Johann Friedrich Böhmer. Die preußische Besatzung von 1866, durch die Frankfurt seine Unabhängigkeit verlor, stellte demgegenüber einen Rückschritt dar, wurde doch der Bibliotheksetat für Jahrzehnte auf dem Stand von 1859 eingefroren. Auch die Wiesbadener Landesbibliothek konnte sich unter preußischer Hoheit nur wenig weiterentwickeln. Indessen stagnierten nicht alle Bibliotheken unter napoleonischer und preußischer Herrschaft. Wie das Beispiel der Wetterauischen Gesellschaft zeigt, wurden Bibliotheken auch gefördert. Das gilt nicht zuletzt für die Marburger Universitätsbibliothek während der Herrschaft Jérômes wie auch während der Zeit der preußischen Verwaltung. Hier bedeutete die kurhessische Zwischenzeit eine Periode der Stagnation [14] .

Von der Säkularisierung nach dem Reichsdeputationshauptschluß jedoch profitierten die meisten Bibliotheken, insbesondere die heutigen hessischen Großbibliotheken in Darmstadt [15] , Frankfurt [16] , Fulda [17] , Kassel [18] und Wiesbaden [19] . Selbst katholische Einrichtungen gewannen durch die Auflösung der Klosterbibliotheken, wie etwa die Dombibliothek in Fritzlar [20] und, mittelbar, die Diözesanbibliothek des Bistums Limburg, das 1827 von der Freien Stadt Frankfurt und dem Herzogtum Nassau gegründet und ausgestattet wurde [21] . Es gab auch Bibliotheken, die ihre ursprüngliche Identität verloren und neue Aufgaben zugewiesen erhielten. Das gilt für die Bibliothek der Hohen Schule in Herborn, die unter Napoleon aufgehoben wurde, so daß nur noch ihre theologische Fakultät in ihrem Rechtsnachfolger, dem 1818 eröffneten Theologischen Seminar, überlebte. Mußte die auch auf andere Fakultäten ausgelegte Bibliothek der Hohen Schule damit eine erhebliche fachliche Reduktion hinnehmen, so wandelte sich ihr ursprüngliches Profil völlig mit der Übergabe aller verbliebenen nichttheologischen Bestände (1822) an die neugegründete Nassauische Landesbibliothek. Von einer universal ausgerichteten "Universitätsbibliothek" wurde sie zu einer ausschließlich theologische Werke führenden Priesterseminarbibliothek.

Einen nicht weniger markanten Funktionswandel erlebte auch die Öffentliche Bibliothek zu Fulda, die im Geiste der katholischen Aufklärung zwischen 1776 und 1778 gegründet worden war. Mit der Annexion Kurhessens durch Preußen wurde die Bibliothek Teil des Kommunalständischen Verbandes des neugeschaffenen Regierungsbezirks Kassel. Ihre Sammlung wurde thematisch erweitert, so daß die Theologie in ihrer Bedeutung zurücktrat: "Nachdem der Grundstock der Bibliothek fast gänzlich aus den Sammlungen geistlicher Institutionen oder Einzelpersonen gebildet wurde, waren die relativ geringen Erwerbungen während des 19. Jahrhunderts neben der Theologie vor allem auf die Fächer gerichtet, die den Interessen des örtlichen Bildungsbürgertums entsprachen (Geschichte, Literatur, Staatswissenschaften, Geographie und Reisen, klassische Philologie)." [22]

Die Abkehr von der Theologie und die Hinwendung zu bildungsbürgerlichen Interessen entsprach dem Zug der Zeit. Schon in der Aufklärungszeit und verstärkt nach der französischen Revolution kam es zu Gründungen von naturkundlichen und literarisch oder historisch motivierten Vereinigungen und Stiftungen. In ihnen kam ein verändertes Wissenschafts- und Bildungsverständnis zum Ausdruck. Sein institutionelles Korrelat war der Typus der Vereinsbibliothek. Das herausragende Beispiel für diesen neuen Typ ist die Senckenbergische Bibliothek, die ihr Entstehen der Initiative und dem Legat des Frankfurter Arztes Johann Christian Senckenberg (1707--1772) verdankte. Er gründete zur Verbesserung des Frankfurter Medizinalwesens 1763 eine Stiftung, zu der auch die Bibliothek gehörte [23] . In der nach-napoleonischen ra gründeten sich mehrere wissenschaftliche Vereine, die zwar organisatorisch von der Senckenbergischen Stiftung getrennt blieben, ihre eigenen Buchbestände jedoch in die Senckenbergische Bibliothek einbringen konnten und auf diese Weise über das Nutzungsrecht auf die gesamte Bibliothek verfügten [24] .

Einer Vereinsgründung verdanken auch die Hanauer Bibliotheken ihr Bestehen. Die Bibliothek der 1808 gegründeten Wetterauischen Gesellschaft für die gesamte Naturkunde zu Hanau blieb in der Hand des Vereins. Die Bibliothek des Allgemeinen Lesevereins fusionierte 1846 mit einer Privatbibliothek zur Stadtbibliothek Hanau [25] . Sowohl die Entstehung von Lesevereinen, Wissenschaftsvereinen, Heimat- und Geschichtsvereinen sowie von Stadtbibliotheken lassen sich mit dem zunehmenden gesellschaftlichen Engagement des Bildungsbürgertums in Verbindung bringen. Deutlich wird das Gewicht der bürgerlichen Kultur auch daran, daß zwei hessische wissenschaftliche Großbibliotheken sich in wichtigen Teilen auf Stiftungen zurückführen: Die Gründung der Stadt- und Universitätsbibliothek in Frankfurt in ihrer heutigen Form ist wesentlich geprägt durch die Zusammenlegung der alten Stadtbibliothek mit der Rothschild'schen Bibliothek, die 1887 durch Hannah Luise von Rothschild gestiftet wurde. Die heutige Gesamthochschulbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel weist ihre Genese bereits im Namen aus. Die Murhardsche Bibliothek wurde 1845 von den Brüdern Karl und Friedrich Murhard gestiftet.

Auch in der Aristokratie kam es zu einer "Verbürgerlichung", die sich auf die Bibliotheken auswirkte. Ein Beispiel ist die Graf zu Solms-Laubachsche Bibliothek, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den Schwerpunkt ihrer Erwerbungen auf die Technik und die Naturwissenschaften legte. Der Grund dafür dürfte in den Interessen des Grafen Hermann zu suchen sein, der seit 1879 den bürgerlichen Berufsweg eines Professors für Botanik in Straßburg und in Göttingen einschlug [26] . Das Fürstentum zu Ysenburg und Büdingen erlebte mit dem Zerfall des Alten Reiches ebenfalls ökonomische Umstrukturierungen, die seine wirtschaftlichen Grundlagen veränderten. Mit der Mediatisierung von 1806 und deren Bestätigung durch den Wiener Kongreß verlor das Fürstentum seine Souveränität, und seine Grafen wurden Standesherren im Großherzogtum Hessen. "Die wichtigste Wirtschaftsgrundlage wurde nun der Besitz des ausgedehnten Büdinger Waldes, hinzu kamen Einnahmen aus dem Agrarbereich, den in Pacht und Eigenwirtschaft betriebenen Höfen sowie dem Abbau von Bodenschätzen (Basalt, Braunkohle). Diese Entwicklung spiegelt sich in der Bibliothek in der Literatur zum Forst- und Jagdwesen, zu Landwirtschaft, Tierzucht und Bergbau wider." [27] Wie bei den Fürsten zu Solms-Laubach zeigt sich hier, daß die kleineren Fürstenbibliotheken keineswegs bibliothekarische Inseln bildeten, an denen die Entwicklungen der Zeit spurlos vorübergingen.

Einen erheblichen Umstrukturierungsprozeß machten die Bibliotheken der Universitäten durch. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wandelten sie sich zu modernen Gebrauchsbibliotheken. Die geistigen Veränderungen der Aufklärung führten ebenso zu neuen Anforderungen an die Bibliotheken wie die Durchsetzung der im späten 17. Jahrhundert entstandenen Wissenschaftsbewegung. Das Schwergewicht verschob sich von der Lehre zur Forschung, so daß den Universitäten die zentrale Rolle bei der Suche nach neuen Erkenntnissen zufiel. Demgegenüber wurde die reine Wissensvermittlung zunehmend auf die Gymnasien übertragen [28] . Diese sich allmählich vollziehenden Entwicklungen stürzten die deutschen Universitäten in eine "tiefgreifende Identitätskrise", aus der sie sich nur allmählich befreien konnten und die sie zwang, "sich vom 'Leitbild des organisatorischen Minimums' (Ellwein) zu lösen und zu einer Institution zu werden, die dem Bürokratisierungsniveau ihrer Zeit entsprach. Beides -- die verwaltungstechnische Innovation und die inhaltliche Neuorientierung -- mußten die Universitätsbibliotheken mit- bzw. nachvollziehen." [29]

In Hessen trat dieser Modernisierungsschub beispielhaft in der Gießener Universitätsbibliothek zutage. Zugleich wird am Gießener Beispiel deutlich, daß dieser Prozeß nicht immer von rein fachlichen Kriterien bestimmt wurde. Die personelle und räumliche Ausstattung der Bibliothek wurde verbessert, die Ausleihe großzügiger gehandhabt und die Buchbeschaffung beschleunigt. Für die notwendige Überarbeitung des Katalog- und Aufstellungssystems hatte man zwei Vorbilder: das Göttinger System vom Ende des 18. Jahrhunderts, das Mitte des 19. Jahrhunderts in Berlin verbessert wurde; und das von Schleiermacher für die Darmstädter Hofbibliothek entworfene. Obwohl das Berliner System als das fortschrittlichste seiner Zeit galt, entschied man sich im großherzoglich regierten Gießen für das System Schleiermachers und damit gegen das "preußische System". "Sogar noch Anfang des 20. Jahrhunderts, als die bekannten 'Preußischen Instruktionen' vor dem Hintergrund des geplanten Gesamtkatalogs zur allgemeinen Einführung anstanden, verweigerten sich einige wissenschaftliche Bibliotheken, unter ihnen auch Gießen, zunächst diesem Ansinnen. Man argumentierte nicht nur technisch, sondern auch politisch: Dem preußischen Hegemoniestreben sollte Einhalt geboten werden." [30] Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts waren jedoch zumindest in der Praxis die Bibliothekssysteme weitgehend vereinheitlicht, und der Berufsbibliothekar war etabliert.

Von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an ist die hessische Bibliothekslandschaft im wesentlichen durch den Prozeß der zunehmenden Ausdifferenzierung von staatlichen Sphären aus der Gesellschaft bestimmt. Dabei wirkten vor allem die französische Revolution, die napoleonische Herrschaft und die preußische Verwaltung als Katalysatoren. In allen wichtigen politischen Zentren des Landes trennen sich Hof- und Staatsverwaltung. Die Staatsverwaltung wird in Ressorts mit ministerialer Zuständigkeit aufgeteilt. Nach französischem und preußischem Vorbild werden die Verwaltungsvorschriften vereinheitlicht, und Gemeindeordnungen lösen vielfach die mittelalterlichen Verfassungsstrukturen ab. Aus fürstlichen Privatbibliotheken wurden öffentliche Anstalten mit allgemeinem Nutzungsrecht. In Kassel etwa bereiteten die Brüder Grimm die fürstliche Bibliothek zwischen 1814 und 1829 inhaltlich und organisatorisch auf ein breites bürgerliches Publikum vor. Darmstadt und Wiesbaden öffneten 1817 erstmals ihre Tore für die Öffentlichkeit [31] .

Die Dotation von Fürstenbibliotheken wurde sukzessive aus der fürstlichen Zivilliste in den staatlichen Haushalt überführt -- bei gleichzeitigem Verzicht auf die den privaten Ursprung dokumentierende Bezeichnung "Hofbibliothek". Nach der preußischen Annexion von 1866 wurden die Hofbibliotheken in Landes- oder Provinzialbibliotheken umbenannt. In Hessen traf dies auf die ehemaligen Fürstenbibliotheken in Wiesbaden, Kassel und Fulda zu. Zusammen mit den Universitätsbibliotheken Gießen und Marburg und der Stadtbibliothek Frankfurt ergab sich daraus ein dichtes staatliches Bibliotheksnetz. Die Funktionsteilung zwischen den Bibliotheken, die den Landesbibliotheken die Sammlung der historischen und landeskundlichen Literatur zuwies, den Universitätsbibliotheken die Sammlung der sonstigen wissenschaftlichen Literatur, suggeriert allerdings eine konzeptionelle Geschlossenheit, die allein schon aufgrund der politischen Unterschiede zwischen den preußisch und großherzoglich regierten Landesteilen nicht existierte [32] .

Das 20. Jahrhundert

Hessen war seit der preußischen Annexion von 1866 zweigeteilt und blieb dies bis 1945. Die preußische Provinz Hessen-Nassau, die das Kurfürstentum Hessen, das Herzogtum Nassau und die Stadt Frankfurt umfaßte, bestand bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Das Großherzogtum Hessen hingegen endete mit dem Untergang des Kaiserreichs. Am 9. November 1918 wurde der letzte Großherzog Ernst Ludwig durch revolutionäre Truppen entmachtet. An seine Stelle trat zunächst eine provisorische Regierung in Form eines Arbeiter- und Soldatenrates. Seit 1919 übte der hessische Staatspräsident die Regierungsgewalt über den Volksstaat Hessen aus. Mit der Kapitulation im Mai 1945 kamen beide hessische Gebiete unter amerikanische Verwaltung. Es entstanden die drei Regierungsbezirke Darmstadt, Kassel und Wiesbaden, und am 1. Dezember 1946 trat die gültige hessische Verfassung in Kraft.

Im Unterschied zum Ersten Weltkrieg waren die Verluste der hessischen Bibliotheken an Gebäuden und Beständen im Zweiten Weltkrieg sehr hoch. Durch Luftangriffe bis ins Jahr 1945 wurden wertvolle Altbestände vernichtet. Trotz der Auslagerung der wertvollsten Bibliotheksbestände, so etwa bei der Frankfurter Stadtbibliothek und der Gießener Universitätsbibliothek, konnten viele Kostbarkeiten nicht in Sicherheit gebracht werden. So ging 1941 bei einem Luftangriff auf Kassel fast der gesamte Bestand der Landesbibliothek verloren. Die Darmstädter Landesbibliothek verlor 1944 etwa fünfzig Prozent ihres Bestandes. Die Landesbibliotheken in Wiesbaden und Fulda blieben hingegen verschont und konnten den größten Teil ihres Bestandes durch den Krieg bringen.

Schon vor dem Zweiten Weltkrieg stagnierte das Bibliothekswesen in Hessen, wie auch sonst im damaligen Deutschen Reich. Die Weltwirtschaftskrise und in ihrem Gefolge die Inflation wirkten sich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen auch auf die Fördermittel der Bibliotheken aus. Daß es beispielsweise in Frankfurt nicht zu einem völligen Stillstand in der Anschaffung kam, verdankt die Bibliothek fast ausschließlich ihren Stiftern und Freunden.

Die allgemeine Stagnation hielt während der nationalsozialistischen Herrschaft an, während die Bücherverbrennungen sowie die Verfolgung und Amtsenthebung jüdischer oder nichtgenehmer Bibliotheksangehöriger auch in Hessen zur Tagesordnung gehörten. Das bekannteste Beispiel ist die Entlassung des Direktors der Darmstädter Landesbibliothek, Hanns Wilhelm Eppelsheimer, der von 1929 an dieses Amt bekleidet hatte, 1933 entlassen wurde und erst nach Kriegsende in diese Position zurückkehren konnte.

Die Zeit nach 1945 war durch den Wiederaufbau von Bibliotheksgebäuden und Bibliotheksbeständen geprägt. Das von den Alliierten in ganz Hessen beschlagnahmte nationalsozialistische Schriftgut wurde zum großen Teil in die Landesbibliotheken oder in spezielle, nur den Alliierten zugängliche Depots gebracht. Ein Teil des amerikanischen Depots in Offenbach ging später in den Bestand der Darmstädter Landesbibliothek ein, die von der amerikanischen Verwaltung die Auflage erhielt, eine Sondersammlung nationalsozialistischen Schriftguts anzulegen, die der Erforschung der Ursachen des Nationalsozialismus dienen und die demokratischen Traditionen stärken sollte [33] .

Nach einer Phase der allgemeinen Konsolidierung entstanden auch einige Institutionen wieder, die schon vor 1945 existiert hatten. So nahm 1953 das Bundessozialgericht als Nachfolger des Reichsversicherungsamtes in Kassel seine Tätigkeit auf und übernahm in seine Bibliothek die Bestände der Vorgängereinrichtung. hnliches gilt für das 1946 gegründete Hessische Landesamt für Bodenkunde, das auf die frühere Landesanstalt für die geologische Untersuchung des Kurstaates (gegründet 1853) zurückgeht.

Allgemein ist die Entwicklung vom Vordringen von Fach- und Spezialbibliotheken geprägt. In den Universitäten sind in zunehmendem Maße seit den fünfziger Jahren neue Institutsbibliotheken entstanden. Die Vermehrung von Institutsbibliotheken setzte sich seit den sechziger Jahren mit der Ausweitung der Universitäten, der Vermehrung des wissenschaftlichen Personals und der Differenzierung von Wissenschaftsgebieten fort [34] . Sofern bei Universitätsneugründungen nicht ältere Bibliotheken in den neuen Universitätsbibliotheken inkorporiert wurden, wurden diese schließlich als moderne Gebrauchsbibliotheken aufgebaut.

Auch außerhalb des universitären Bereichs sind in diesem Zeitraum in größerer Zahl Spezialbibliotheken entstanden. So etwa das Johann-Gottfried-Herder-Institut in Marburg (gegründet 1950) und das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt (gegründet 1964). Zahlreiche Spezialbibliotheken, die privaten Einrichtungen oder öffentlichen Institutionen angegliedert sind, entstanden vor allem im Frankfurter Raum, der als Dienstleistungs- und Verwaltungszentrum eine besondere Rolle in Hessen spielt. Das gilt etwa für die Bibliothek des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, die Bibliothek der Industrie- und Handelskammer in Frankfurt, die Zentralbibliothek der IG Metall und die Bibliothek des Deutschen Postmuseums.

Dezidierte Interessen, besondere Fragestellungen und neue gesellschaftliche Impulse haben ebenfalls zur Gründung von Spezialbibliotheken geführt. Sie werden von öffentlichen Institutionen, privaten Einrichtungen oder Stiftungen getragen. So beispielsweise das Institut für bankhistorische Forschung, das in den sechziger Jahren in Frankfurt gegründet wurde und dessen Arbeit sich auf die Geschichte der Banken erstreckt. Auf das Lebenswerk der Brüder Grimm konzentriert sich die Bibliothek des Brüder-Grimm-Museums in Kassel. Das Lotte- und Jerusalemhaus in Wetzlar, verwaltet durch die Städtischen Sammlungen, widmete sich einem einzigen Literaturwerk, den Leiden des jungen Werthers}. Das Archiv der deutschen Frauenbewegung, 1984 in Kassel gegründet, trägt den emanzipatorischen Bestrebungen der jüngsten Zeit Rechnung.

Joachim Meißner

Anmerkungen
[1] Für die Ausarbeitung des Überblicks bin ich besonders der Regionalredaktion Frankfurt, namentlich Frau Dr. Eve Picard und Herrn Alexander Kraft, zu großem Dank verpflichtet.

[2] Zur Problematik einer historischen Topographie Hessens vgl. Sabine Wefers: Ein Reiseführer für die Forschung. In: ABI-Technik 1, 1991, S. 39--46, hier S. 42

[3] Vgl. Karl E. Demandt: Geschichte des Landes Hessen. Kassel 1972 (2. erw. Aufl.), S. 220

[4] Zu den Klosterauflösungen und zu einer allgemein anwachsenden "Klosterfeindschaft" in der Bevölkerung vgl. Demandt, S. 224f.

[5] Die Keimzelle der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek in Darmstadt ist eine private Büchersammlung des Fürsten (Bücherbesitz seit dem 14. Jahrhundert nachgewiesen); Stadtarchiv und Stadtbibliothek in Frankfurt gehen auf eine Sammlung des Rates der Stadt aus dem 15. Jahrhundert zurück; ursprüngliche Stiftsbibliotheken sind die Fritzlarer Dombibliothek aus dem 9. Jahrhundert und die Bibliothek der evangelischen Marienstiftsgemeinde in Lich aus dem 14. Jahrhundert.

[6] Vgl. Demandt, S. 226

[7] Demandt, S. 247

[8] Demandt, S. 430

[9] Demandt, S. 264

[10] Demandt, S. 425

[11] Vgl. Handbucheintrag von Alexander Kraft, 1.10

[12] Demandt, S. 273. Das Collegium Carolinum befindet sich seit 1786 an der Universität Marburg.

[13] So verwahrt z. B. die Hessische Landes- und Hochschulbibliothek in Darmstadt allein in der Schleiermacher-Gruppe "Ökonomische und technische Wissenschaften" über 4000 Werke aus der Zeit vor 1800; vgl. Handbucheintrag von Detlev Jordan, 2.50.

[14] Vgl. Handbucheintrag von Uwe Bredehorn, Bestandsgeschichte

[15] Vgl. Handbucheintrag von Kurt Hans Staub, 1.8

[16] Vgl. Handbucheinträge von Alexander Kraft und Gerhardt Powitz, 1.21, 2.107

[17] Vgl. Handbucheintrag von Lothar Brall, 1.15

[18] Vgl. Handbucheintrag von Peter Vogel, Bestandsgeschichte

[19] Vgl. Handbucheintrag von Wolfgang Podehl, 1.3

[20] Vgl. Handbucheintrag von Clemens Lohmann, 1.2

[21] Vgl. Handbucheintrag von Hermann Schwedt, 1.2

[22] Vgl. Handbucheintrag von Lothar Brall, 1.17

[23] Vgl. Handbucheintrag von Helmut Burkhardt, 1.1 ff.

[24] Ibid., 1.5

[25] Vgl. Handbucheintrag von Angelika Hentschel, 1.1. Nach wie vor entstehen zahlreiche Bibliotheken aus dem Besitz lokaler Heimat- und Geschichtsvereine; so die Bibliothek des Büdinger Gesichtsvereins im Heuson-Museum (1906), die Bibliothek des Dreieich-Museums (1910), die Bibliothek des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Frankfurt-Höchst (1894), die Bibliothek des Stadtarchivs Friedberg (1896), die Bibliothek des Stadtarchivs Idstein (1902), die Bibliothek des Stadtarchivs Offenbach (1901), die Bibliothek des Museums Rüsselsheim (1936), die Bibliothek des Heimatmuseums Heusenstamm (1947), die Bibliothek der Heimatstelle Main-Kinzig (1972).

[26] Vgl. Handbucheinträge von Gertraud Kullmann und Simone Noethe, 1.9

[27] Vgl. Handbucheintrag von Klaus-Peter Decker, 1.4

[28] Mit dem Nassauischen Schuledikt vom 24. März 1817 wurde das Schul- und Bildungswesen in Nassau neu geordnet, wobei auch die alten Schulbibliotheksbestände entsprechend der neuen Aufgabenstellung umverteilt wurden. Vgl. Eugen Caspary: 300 Jahre Bibliothek des Gymnasiums zu Weilburg. Festschrift zum 300jährigen Bestehen der Bibliothek Weilburg. Weilburg 1985, S. 13f. und die Handbucheinträge für Weilburg (Bibliothek des Gymnasiums Philippinum), Dillenburg (Bibliothek der Wilhelm von Oranien-Schule), Hadamar (Wissenschaftliche Bibliothek und Lehrerbibliothek der Fürst-Johann-Ludwig-Schule) und Hessische Landesbibliothek Wiesbaden

[29] Sabine Wefers: Der Wandel der Gießener Universitätsbibliothek zu einer modernen Gebrauchsbibliothek im 19. Jahrhundert. In: Geschichte der Universitätsbibliothek Gießen, mit Beiträgen von Thorsten Dette ldots Gießen 1991, S. 27--45, Zitat: S. 27

[30] Ibid. S. 38--39

[31] Vgl. Handbucheinträge von Yorck Haase, 1.12 und Wolfgang Podehl, 1.6

[32] Ausführlicher zur Überführung der fürstlichen "Hofbibliotheken" in staatlich finanzierte "Landes- und Provinzialbibliotheken" vgl. Ladislaus Buzas: Deutsche Bibliotheksgeschichte der neueren Zeit (1800--1945). Wiesbaden 1978, S. 16f.

[33] Vgl. Handbucheinträge von Joachim Schuchardt und Joachim Meißner

[34] Beispiele sind die Institutsbibliotheken für Jugendbuchforschung (1963) und für Geschichte der Naturwissenschaften (1943) an der Frankfurter Universität; für Geschichte der Medizin (1965) an der Gießener Universität; und die Fachbereichsbibliotheken für Erziehungswissenschaften (1952), für Geschichte der Medizin (1964), für Europäische Ethnologie (1960) und für Geschichte der Pharmazie (1965) an der Universität Marburg. Zur nicht unproblematischen Geschichte der Institutsbibliotheken am Beispiel Gießens vgl. Wefers, Der Wandel, besonders S. 42--43


Quelle: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Digitalisiert von Günter Kükenshöner.
Hrsg. von Bernhard Fabian. Hildesheim: Olms Neue Medien 2003.