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Im Jahre 1994 schloß sich die Russische Nationalbibliothek einem der größten laufenden bibliothekarischen Unternehmen an, dem Handbuch deutscher historischer Buchbestände in Europa. Die Russische Nationalbibilothek wurde vor die Aufgabe gestellt, die Teilnahme russischer Bibliotheken an diesem Projekt zu organisieren und ihre Beiträge mit Bestandsanalysen zu koordinieren. Ziel war die Erstellung eines russischen Handbuch-Bandes.
Daß die Russische Nationalbibliothek an diesem Projekt federführend beteiligt wurde, geschah mit gutem Grund. Verfügt sie doch über eine der größten Sammlungen historischer deutscher Drucke überhaupt - ihr Bestand fremdsprachiger Drucke beträgt insgesamt 6 Millionen Bände, von denen ca. 40 Prozent auf deutschsprachige Werke entfallen. Darüber hinaus unterhält die Bibliothek gute Kontakte sowohl mit deutschen als auch mit russischen Kollegen.
Bei der Zusammenstellung des russischen Bandes stützten sich die Mitarbeiter der Russischen Nationalbibliothek auf die Kenntnisse und Erfahrungen zahlreicher Spezialisten, insbesondere Herrn Professor Fabians, der hierzulande wohl bekannt ist. So fand seine Monographie Buch, Bibliothek und geisteswissenschaftliche Forschung, die nur in Rußland vollständig aus dem Deutschen übersetzt worden ist, ständiges Interesse. Dieses Interesse beruhte nicht nur auf der Arbeit am russischen Handbuch. Seine Schriften halfen uns auch bei der Vorbereitung des ersten russischen Programms zur Konservierung historischer Buchbestände in russischen Bibliotheken. Zu diesem Problemkreis wurde in unserer Bibliothek auch ein Seminar mit dem Thema ,,Forschungsbibliothek`` veranstaltet. Eine Reihe von Professor Fabians Arbeiten wurden in Schriftenreihen der Russischen Nationalbibliothek sowie in der Zeitschrift St. Petersburger Bibliotheksschule [Petersburgskaja bibliotecnaja škola] veröffentlicht.
Was das Handbuch-Projekt angeht, so hat es mit seiner Verwirklichung in Rußland eine eigene Bewandtnis. Die einzigartigen nicht-russischen Buchbestände, die infolge der großangelegten Verstaatlichung von Büchersammlungen nach 1918 den staatlichen Bibliotheken einverleibt wurden, blieben über einige Jahrzehnte kaum erforscht. Aus diesem Grund mußten die teilnehmenden Bibliotheken große Schwierigkeiten bei der Ermittlung des Bestandsumfangs überwinden. Die beiden russischen Teilbände bieten jedoch ein relativ umfassendes Bild der Sammlungen deutscher historischer Drucke in unserem Land.
Bei der Auswahl der teilnehmenden Bibliotheken ging es vor allem darum, das Potential der St. Petersburger Bibliotheken zu erschließen, zumal sich in dieser Stadt, die seit Anfang des 18. Jahrhunderts zwei Jahrhunderte lang Hauptstadt des russischen Reiches war, die reichsten Sammlungen an deutschen Buchbeständen herauskristallisiert haben. Dies hing zum einen mit der Entwicklung St. Petersburgs zu einer kosmopolitischen Stadt zusammen, die zu einer der kulturellen Metropolen Europas wurde, zum anderen mit den besonders engen und fruchtbaren Beziehungen St. Petersburgs zu Deutschland. In dem Teil, der den St. Petersburger Bibliotheken gewidmet ist, sind bei weitem nicht alle Bibliotheken vertreten, die deutsche historische Bestände besitzen, doch zeigen die Beiträge im großen und ganzen, wie reich das kulturelle Erbe ist.
Der zweite Teil enthält u. a. Beiträge zu Moskauer Bibliotheken. Im Handbuch sind die bedeutendsten Sammlungen der Hauptstadt erschlossen. Bei der Auswahl der Regionalbibliotheken waren vor allem Sammlungen in solchen Städten vorzustellen, die sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart die Rolle bedeutender wissenschaftlicher und kultureller Zentren einnehmen, z. B. Niznij Novgorod und Samara, oder auch in Städten, die erst seit dem 20. Jahrhundert diese Funktion einnehmen, wie Ekaterinburg oder Novosibirsk. Es wurde auch Wert darauf gelegt, Bibliotheken aus Regionen zur Mitarbeit zu gewinnen, deren Entwicklung besonders stark von der deutschen Kultur geprägt worden ist. Dies ist zum einen die Region von Kaliningrad, zum anderen die von Saratov, auf deren Territorium sich vor dem Zweiten Weltkrieg teilweise die Republik der Wolgadeutschen erstreckte. In Engels, ihrer Hauptstadt, war eine einzigartige Bibliothek entstanden, deren Bestände später auf andere Sammlungen verstreut wurden. Ein bedeutender Teilbestand jedoch gelangte nach Saratov.
Wir sind uns der Schwierigkeiten bewußt, alle Büchersammlungen der Regionen Rußlands in ihrer Vielfalt zu behandeln. Wir können nur einen Teil von ihnen vorstellen, doch haben wir uns bemüht, die Bestände zu erschließen, die im Hinblick auf das deutsche Buch von besonderer Bedeutung sind. Wir möchten zeigen, daß einzigartige Sammlungen nicht nur in Bibliotheken im Zentrum Rußlands vorhanden sind, sondern auch in abgelegenen Regionen, die in der Vergangenheit nicht als wissenschaftliche oder kulturelle Zentren gegolten haben.
Für die Mitarbeiter zahlreicher russischer Bibliotheken bedeutete die Teilnahme am Handbuch-Projekt eine Ermutigung, ihre fremdsprachigen historischen Bestände unter verschiedenen Aspekten zu analysieren, um zu verstehen, welche Schätze sie in ihren Bibliotheken besitzen. Mehr als einmal haben Mitar-
beiter zahlreicher Bibliotheken, sowohl in Gesprächen als auch in Briefen, den verantwortlichen Mitarbeitern der Russischen Nationalbibliothek gegenüber ihre Dankbarkeit für die Teilnahme an diesem Projekt geäußert. Im Laufe dieser Arbeit haben wir vieles über uns selbst erfahren und vieles gelernt. Für alle russischen Teilnehmer erwies sich die Arbeit als ausgesprochen nützlich.
Mit großem Interesse begegnete die Russische Nationalbibliothek dem Vorschlag von Professor Bernhard Fabian, einen russischen Band im Rahmen des Handbuches deutscher historischer Buchbestände in Europa zusammenzustellen. Diese Idee hat sich auf eine Weise verwirklicht, die uns auch in Zukunft eine erfolgreiche Zusammenarbeit ermöglichen wird.
St. Petersburg,November 2000
Vladimir N. Zaitsev,
Direktor der Russischen Nationalbibliothek